“Lasst uns den Baum anzünden!” – Das hört man in der Weihnachtszeit oft, und in der Regel lässt eine Antwort nicht lange auf sich warten. Dann heisst es ungefähr: “Doch lieber nur die Kerzen.” Am Anfang war das auch noch lustig und originell, aber jährliche Wiederholungen fördern die Kraft von Witzen nicht – auch nicht in den traditionsgeprägten Festtagen. Doch immerhin gibt dieser Spruch ein willkommenes Sprungbrett ab, um kurz über eine verbreitete sprachliche Erscheinung nachzudenken, die schon längst den Weg aus der Rhetorik in unseren Alltag gefunden hat: die Synekdoche. (Die Betonung liegt auf der zweiten Silbe: Synekdoche.)
Hinter diesem klangvollen Wort (ich würde mir ernsthaft überlegen, meine dritte Tochter so zu nennen) verbirgt sich eine der so genannten rhetorischen “Stilfiguren”, mit deren Hilfe ein Text kunstvoll gestaltet werden kann. Vor allem sollen sie ihn schöner und überzeugender machen. Die Synekdoche tut das, indem sie einen Begriff mit einem anderen ersetzt. Natürlich nicht mit einem beliebigen, das würde das Verständnis doch erheblich erschweren. Die Synekdoche sucht sich als Ersatz einen Begriff, der in einer direkten Beziehung mit dem zu ersetzenden Ausdruck steht. So kann das aussehen:
- Teil und Ganzes werden vertauscht. Zum Beispiel hat man gerne “ein Dach über dem Kopf”, meint damit aber ein ganzes Haus rundherum. Oder man “zündet den Christbaum an”, sagt das jedenfalls, meint aber nur einen Teil davon, nämlich die Kerzen.
- Allgemeines und Spezielles werden vertauscht. Zum Beispiel steht die Gattung für die Art: “Kaum im Zoo angekommen, machten wir uns auf die Suche nach den Löwen. Doch so sehr wir uns auch bemühten, die Katzen blieben unauffindbar.” (Hier wird der allgemeinere Begriff Katze für die spezielle Art Löwe verwendet.) Das Spezielle steht für das Allgemeine in: “Unser tägliches Brot gib uns heute.” Wir wollen ja mehr essen als immer nur Brot.
- Das Nachfolgende und das Vorausgehende werden vertauscht. So kann der Rohstoff für das Endprodukt stehen, zum Beispiel Traubensaft für Wein.
- Einzahl und Mehrzahl werden vertauscht. “Der Schweizer isst gerne Schokolade.” Wenn die Mehrzahl für die Einzahl steht, hat man es meist mit einem König oder Diktator zu tun: „Wir befehlen eine landesweite Suche nach dem besten Mann für unsere Prinzessin!“
Es ist leicht zu erkennen: Die Synekdoche ist fester Bestandteil unserer Alltagssprache, vor allem in den Varianten 1 und 2. Das zeigt sich nicht nur beim Christbaumanzünden. Ja, wer darauf mit “doch lieber nur die Kerzen!” reagiert, müsste bei “ein Glas trinken“ ebenfalls witzig werden.
Übrigens: Die Feuerwehr warnt nachdrücklich davor, die Christbaumkerzen am inzwischen trockenen Baum zu Silvester nochmals anzuzünden. Ansonsten könnte passieren, wovon wir immer wieder reden: Der Baum brennt.
Tobias Lampert meint
Schöne Begriffserläuterung! 🙂
Gibt’s auch eine Erklärung für die Betonungsverschiebung vom gr. συνεκδοχή (also mit Betonung auf der Schlußsilbe) und der Betonung im Deutschen?
Cla Gleiser meint
Hi Tobias
Gute Frage. Ich weiss es zwar nicht, habe aber ein spontanes Gefühl, das auch eine Antwort hergibt. Und wer weiss, vielleicht stimmt sie ja sogar.
Wenn ein Wort aus einer Fremdsprache übernommen wird, dann kommt es in der Regel zu einer schrittweisen Anpassung an die Aufnahmesprache. Das französiche Portemonnaie zum Beispiel dürft ihr in Deutschland ja inzwischen Portmonee schreiben. Diese Schreibweise entspricht eher der deutschen Sprache, die ja tendenziell „schreibt, wie man spricht.“ (So empfinden es jedenfalls alle mit deutscher Muttersprache.) Ein anderer Aspekt der Anpassung ist die Betonung. Bleiben wir bei Portemonnaie. In der Schweiz setzen wir den Akzent auf die erste Silbe, im Gegensatz zur französischen Aussprache, die auf der Endsilbe betont. Schweizer: Portmonnaie, Franzose: Portmonnaie. Die Hochdeutschen halten sich an die Betonung der Franzosen.
Meine Vermutung: Die Verschiebung des Akzentes hat im Prozess der Anpassung eine hohe Priorität, geschieht also früh. Wenn wir ein Wort in unsere Sprache übernehmen, wollen wir, dass es sich hier gut integriert. Das ist wichtig für den Sprechrhythmus. Und da die Betonung auf der Endsilbe wie beim griechischen Synekdoche (συνεκδοχή) für uns Deutsch Sprechende fremd klingt, wird der Akzent einfach dem deutschen Muster angepasst.
Tobias Lampert meint
@Cla:
Das klingt plausibel, ja – danke für die Erklärung! Ich muß mir das jetzt erst mal aneignen: der Ton rutscht bei mir immer noch hartnäckig auf die letzte Silbe … 😉
Vielen Dank auch für den Link auf meinen „Rutsch-Artikel“!
LG,
Tobias 🙂