Neulich konnte ich wieder einmal über die Flexibilität der deutschen Sprache staunen. Das hat mich gefreut, und Freude teilt man gerne. Ich stand im Gang eines doppelstöckigen Intercityzuges und las, was es zu lesen gab: die Schilder an den Wänden. Dazu gehörte auch dieses:
Neben der erfrischend bunt zusammengewürfelten Piktogrammsprache fiel mir der unterste Abschnitt auf und daran die konzentrierte Warnung am Zeilenende in Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch (es lebe die Vielsprachigkeit!):
Lebensgefahr
Danger de mort
Pericolo di morte
Risk of death
Alle reden vom Tod, nur das Deutsche nicht. Das ist doch bemerkenswert. Da ich sprachlich nur unwesentlich weiter versiert bin als dieses Schild, kann ich hier einzig noch die griechische Variante anfügen: κίνδυνος θανάτου! (kindynos thanatοu!) – und auch die spricht vom Tod. Ganz schön bedrückend. Und im Gegensatz dazu belebend, wie frech die deutsche Sprache aus der Reihe tanzt. Dabei – und jetzt kommt der Clou – könnte man hier ja genauso gut Todesgefahr schreiben. Das würde auch funktionieren. Lebensgefahr und Todesgefahr bedeuten dasselbe. (Wenn Sprache Mathematik wäre, könnte man jetzt auf beiden Seiten Gefahr abziehen und hätte dann die paradoxe Gleichung Leben = Tod. Eine verführerische Gedankenspielerei.) Möglich ist so etwas, weil zusammengesetzte Wörter im Deutschen nicht immer nach dem gleichen Muster gestrickt werden. (Darüber habe ich hier schon einmal geschrieben.) So bezeichnet der erste Teil der Lebensgefahr das gefährdete Objekt, während die Todesgefahr das Resultat vor Augen führt.
Bleibt die Frage, was denn nun angemessener ist. Und da muss ich zugeben, dass mir die eigenwillige deutsche Linie nur als zweitbeste Variante erscheint. Für diese Beurteilung ist der Kontext entscheidend, denn hier geht es ja nicht um eine Beschreibung, sondern um eine Warnung. Eine Warnung muss wirken. Und wirken wird sie wohl dann, wenn sie Emotionen erzeugt – und zwar ungute. Todesgefahr scheint mir schneller und direkter ein abschreckendes Bild vor Augen zu malen als Lebensgefahr. So empfinde ich das jedenfalls.
Wie sieht es in anderen Sprachen aus? Ich bitte meine fremdsprachenbegnadeten Leser, in den Kommentaren Varianten zu ergänzen. Es wäre doch interessant zu sehen, wie einsam das Deutsche mit seiner Lebensgefahr in der europäischen und globalen Sprachlandschaft tatsächlich dasteht.
Jonas Stutz-Kopetschny meint
Hey Cla,
eine tatsächlich überraschende und nicht wenig amüsante Entdeckung, sehr erfrischend und, trotz des eigentlich leicht bedrückenden Inhalts der Warnung, sehr unterhaltsam!
Ich teile deine Meinung, dass die deutsche Sprache hier in diesem Zusammenhang nur zur zweitbesten Lösung greift. Nicht nur, weil das Wort „Leben“ weniger unterbewusste Alarmsignale aussendet als das Wort „Tod“ und somit als Warnung weniger Wirksamkeit zeigt. Vielmehr erfordert die Warnung „Lebensgefahr“ einen Gedankenschritt mehr als die Warnung „Todesgefahr“. Hat man das „Leben“ nämlich als Objekt der Gefahr erfasst, muss man erst noch die Schlussfolgerung ziehen, dass uns (bei Eintreffen der Situation, vor der gewarnt wird) nichts weniger als der Tod vor Augen steht. „Lebensgefahr“ sagt uns schliesslich nichts mehr, als dass unser Leben in Gefahr ist. Aber in welcher Gefahr? In der Gefahr, langweilig zu werden? In der Gefahr, eintönig zu werden? In der Gefahr, vielleicht eingeschränkt zu werden? Da ist die „Todesgefahr“ schon eindeutiger: der Tod droht. Einzig mögliche Schlussfolgerung: unser Leben ist in Gefahr, nicht mehr stattzufinden.
Aber eben, vielleicht ist das uns Schweizern einfach zu direkt. Da hat die SBB sprachliches Einfühlungsvermögen gezeigt – danke!
Cla Gleiser meint
@Jonas
Danke. Ich sehe das genau gleich: Lebensgefahr verlangt einen Denkschritt mehr und wirkt darum verzögert. Dass du den SBB sprachliches Einfühlungsvermögen attestierst, spricht wiederum für deine Fähigkeit, stets das Positive zu sehen und zu betonen. 😉
Heinz meint
Spannede Beobachtung!
Andere fragen sich zudem, weshalb man sich zwar in Lebensgefahr befinden kann, jedoch aus Todesgefahr gerettet wird (kann man jemanden aus der Lebensgefahr retten? Das klingt -zumindest in meinen Ohren- gewöhnungsbedürftig):
http://www.gutefrage.net/frage/lebensgefahr-todesgefahr
Einige Slawen unterhalten sich hier über die von Cla gestellte Frage hinsichtlich der slawischen Sprachen:
http://verslaven.wordpress.com/2006/12/08/lebensgefahr/
Und Latein scheint ambivalent zu sein (habe allerdings den Artikel nur grob überflogen):
http://www.zeno.org/Georges-1910/A/Lebensgefahr
Cla Gleiser meint
@Heinz
Danke für diese gehaltvollen Ergänzungen. Dass man jemanden kaum aus Lebensgefahr rettet, ist übrigens ein gewichtiges Argument dafür, dass Lebensgefahr und Todesgefahr keine Synonyme sind, also nicht dasselbe bedeuten – entgegen dem, was man beim ersten Blick auf die beiden Wörter erwarten würde (ich jedenfalls). Das erstaunt und wirft die sehr interessante Frage auf, in welcher Beziehung die beiden denn nun zueinander stehen: Ist das eine dem anderen untergeordnet? Ergänzen sie sich gegenseitig? Schliessen sie einander aus? Da springen ganz unerwartete Türen auf …
Markus Schwitter meint
Hier wie gewünscht die rumänische Variante, sie weicht allerdings kaum von der Ital-Version ab: pericol de moarte, also auch hier „Gefahr des Todes“ (wörtlich)
Überigens, ich bin bezüglich der Warnung mit dir einig Cla. Meiner Meinung handelt es sich hier um eine Art „sprachlicher Humanismus“, den Tod ist doch ein „grausames“ Wort und der Mensch wird eben nicht gerne an seine Ende erinnert und schon gar nicht wärend seiner Zugreise.
So stellt sich mir die Frage, ob es sich hier wirklich um sprachliches Einfühlungsvermögen handelt oder um die „verharmlosung“ von Tatsachen zu gunsten des Fahrgastes?
Cla Gleiser meint
@Markus
Besten Dank. Die rumänische Bestätigung überrascht mich nicht, macht den Punkt aber noch klarer.
Deine Idee, dass die Lebensgefahr damit zu tun haben könnte, dass wir den Tod tabuisieren, finde ich sehr interessant. Das würde dann zum Schluss drängen, dass wir in Europa diesbezüglich fast einmalig zurückhaltend oder empfindlich sind. Das wäre mir sonst noch nicht aufgefallen…
Viktor meint
Englisch: inflammable = flammable
Französisch: hôte ist sowohl der Gastgeber wie auch der Gast
Svenska meint
So allein steht das Deutsche dann doch nicht da. Schwedisch livsfara = deutsch Lebensgefahr.
Cla Gleiser meint
Vielen Dank für den Hinweis, Svenska!