Was will ich mit meiner Rede erreichen? Das ist die erste Frage, die der Redner sich stellen muss. – Die klassische Rhetorik unterscheidet zwischen zwei Anliegen: Entweder geht es mir darum, mein Publikum von meinem Standpunkt zu überzeugen und zu einer Entscheidung zu bewegen. Das ist der Normalfall, der sich zeitlich rückwärts richten kann (wenn ein Ereignis beurteilt wird, klassischerweise vor Gericht) oder vorwärts (bei einer Entscheidung für die Zukunft). Die zweite Möglichkeit ist eine einfache Informationsrede, in der ich meine Haltung gegenüber meinem Thema zum Ausdruck bringe. In der Klassik unterschied man zwischen Lob- und Tadelrede, und das gibt auch für heute ein gutes Beispiel ab: Wenn ich beim Weihnachtsessen in der Firma das Glas erhebe, um eine (hoffentlich) kurze Tischrede zu halten, dann will ich dort in der Regel niemanden von irgendetwas überzeugen. Vielmehr gebe ich meiner Freude über das gelungene Jahr Ausdruck – oder meinem Ärger über die unloyalen Mitarbeiter.
Es ist nicht dasselbe, ob ich
- über die Funktionsweise eines Elektroautos referiere – oder
- mein Publikum davon überzeugen will, weshalb der Umstieg auf ein Elektroauto für jeden einzelnen ein gewinnbringender Schritt wäre.
Ist diese Entscheidung gefällt, gilt es, das Material für die Rede zusammenzutragen. Das ist in jedem Fall nötig, ganz egal, ob ich zu einem Thema sprechen muss, über das ich schon viel weiss, oder ob ich mich in ein ganz neues Gebiet einzuarbeiten habe. Auf jeden Fall muss ich festlegen, welchen Informationen ich in meiner Rede Platz geben möchte und was ich weglasse. Beim Sammeln ist mir Weite sehr wichtig: Ich versuche, mein Thema aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Dazu besorge ich mir Informationen aus verschiedenen Quellen; das Internet erleichtert uns das massiv, doch ist es hier oft schwer, die Qualität der Informationen zu beurteilen. Zudem setze ich Werkzeuge ein, die mich dazu zwingen, ausserhalb meiner gewohnten Grenzen zu denken. Ein Mittel, das dafür sehr gut geeignet ist, sind die so genannten Analograffiti-Techniken von Vera F. Birkenbihl. Hierbei wird zu einem Wort einfach und visuell unterstützt drauflosgedacht. Ich kann das hier natürlich nicht im Detail schildern, füge aber gerne ein Video ein (Dauer 7:27, aber nach 2 Minuten ist schon klar, worum es geht).
Nochmals: Der wichtige Punkt in dieser Phase der inventio ist die offene Wahrnehmung. Den Kritikfilter schraube ich weit zurück, denn gewichten und beurteilen will ich erst später. Jetzt geht es um Weite, um Masse. Und selbst bei einem Thema, zu dem ich schon viel weiss, sehe ich hier immer eine Chance, noch etwas dazuzulernen.
Was wird denn nun gesammelt? – Das ist abhängig von der eingangs gefällten Entscheidung.
Ich will am Firmenessen 4 freundliche Minuten über das erfolgreiche Jahr sprechen, das sich dem Ende zuneigt. Also werde ich mich in der inventio auf Punkte konzentrieren, die diesen Erfolg fassbar machen. Ähnlich kann ich vorgehen, wenn ich den Jahresbericht meines Schachclubs vorbereite. (Nein, Jahresberichte müssen nicht langweilig sein. Das steht nicht in den Statuten.)
Etwas anders liegt die Sache, wenn ich eine Überzeugungsrede vorbereite. Hier wird sich der Hauptteil der inventio damit befassen, die geeigneten Argumente zu finden, um meinen Punkt deutlich zu machen und mein Publikum in die gewünschte Richtung zu führen. Wieder ist ungehindertes Denken ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg, denn es kann fatal werden, wenn ich meine Sicht der Dinge einfach auf mein Publikum übertrage. Wer sagt denn, dass das Argument, das mir als das gewichtigste erscheint, auch bei meinen Zuhörern zieht? Ich muss mir also viel Zeit nehmen, die Sache, für die ich plädieren will, aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, verschiedene Begründungen zusammenzutragen – und dann zu entscheiden.
Ich arbeite in einer Reinigungsfirma. Die Zeiten sind schwer, weil wegen der schweren Zeiten weniger Leute putzen lassen und mehr selber putzen. Nun möchte ich die Geschäftsleitung davon überzeugen, trotz trostloser Perspektive in eine neue Staubsaugerflotte mit Pollen- und Milbenfilter und kosmischer Saugleistung zu investieren: den “Sucker V-21”. Vorstellbare Ansätze, in den 10 Minuten Sprechzeit, die mir zugestanden wurden, zu überzeugen, könnten so aussehen:
- Die Konkurrenz hat den Sucker V-21 auch – und könnte uns abhängen.
- Gerade jetzt ist es wichtig, den Firmenwert “Innovation” zu pflegen und ein mutiges Zeichen nach vorn zu setzen.
- Der Sucker V-21 ist wartungsarm und wird mittelfristig helfen, Kosten zu sparen.
- Die Mitarbeiter werden begeistert sein, und motivierte Mitarbeiter sind in einem Dienstleistungsunternehmen das grösste Kapital.
Mit 1. spreche ich den Wettbewerbseifer an, mit 2. den Unternehmerstolz, 3. wirkt durch nackte Kalkulation und 4. geht ans Herz.
Um mit einer Überzeugungsrede sein Ziel zu erreichen, lohnt es sich, die verschiedenen Argumente gründlich abzuwägen und dann eine Entscheidung zu treffen. Nicht die Masse bringt den Erfolg. Es geht nicht darum, mit einer Schrotflinte zu feuern und zu hoffen, dass wenigstens eine Kugel trifft. Eine solche Argumentenmasse – und Masse darf hier gerne mit dem Bild eines Breies verknüpft werden – wird unfassbar und ermüdend. Als Redner entscheide ich mich für ein Argument (manchmal vielleicht auch zwei oder höchstens drei, besser aber nur eines) und spitze das in meiner Rede so zu, dass es sitzt. Das gilt natürlich nicht nur für das Sammeln von Argumenten. Auch die Kollegen werden meine Tischrede eher geniessen, wenn ich 3 Erfolgsgeschichten des letzten Geschäftsjahres lebendig Revue passieren lasse, als wenn ich sie mit einer unendlichen Stichwortliste langweile, auf der jeder neue Punkt den vorangehenden zerdrückt.
Die Sammelphase muss über das Ziel hinausgehen. Ich muss zu viel Material anhäufen. Wenn ich aufhöre, sobald ich den Eindruck habe, jetzt reiche es für 10 Minuten, dann höre ich am besten gleich ganz auf. Ich brauche zu viel. Und dann muss ich entscheiden: Welchen Teil der Sammlung will ich nun verwenden? Was unterstützt mein Anliegen? Auch wenn es darum geht, in die Funktionsweise von Elektroautos einzuführen, also ein Informationsreferat zu halten, steht diese Entscheidung an. Ich werde nicht alles sagen können. Hier hilft die Frage weiter, was im Rahmen der Vorgaben nun die wesentlichen Punkte sind. Ich überlege mir: Wer ist mein Publikum? Was interessiert sie? Welches Vorwissen bringen sie mit? Welche Bedürfnisse? Und welche Aspekte meines Themas betrachte ich als die zentralen?
Am Ende der inventio will ich sagen können: Das ist mein Thema! Ich will begeistert sein und motiviert, meine Gedanken den Zuhörern zu präsentieren. Nicht alles, was ich auf meiner Sammeltour zusammengetragen habe, kann ich jetzt auch in meiner Rede platzieren. Es ist einfach zu eng. Wenn das Weglassen nun weh tut, wenn jeder Schnitt schmerzt und ich mir immer wieder denke: “Das wäre aber auch noch wichtig oder hilfreich oder einfach nur interessant!” – dann werte ich das als klares Zeichen, dass die inventio gelungen ist.
[…] ich nun viel Material gesammelt habe, besteht die Herausforderung darin, es in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Dieser zweite […]