Meine erste Rede ohne Skript oder Stichwortkarten hielt ich unfreiwillig. Genauer gesagt: Die Rede hielt ich freiwillig, doch hatte ich geplant, mich wie üblich an einem Mindmap auf Papier zu orientieren, und dieser Plan ging nicht auf. Ich vergass, gleich zu Beginn das Konzept aus der Brusttasche meines Hemdes zu ziehen. Als ich das bemerkte, war es zu spät. Der Griff in die Brusttasche und das Auffalten des Blattes hätten den Redefluss zu stark gestört. So probierte ich es ohne. Und es klappte. Meine Euphorie war gross – so gross, dass ich nie wieder ein Papier verwendet habe.
Mit memoria bezeichnet die klassische Rhetorik das Einprägen der Rede, nachdem die Gedanken in der elocutio ihre sprachliche Form gefunden haben. Natürlich könnte man darauf verzichten und einfach vorlesen, was man geschrieben hat.
Einfach?
Für die Zuhörer wäre dieser Weg alles andere als einfach, da sie voraussichtlich während der ganzen Rede gegen den Schlaf zu kämpfen haben. Doch nicht nur das: Wer seinen Redetext abliest, verpasst etwas. Wer abliest, muss seine erste Aufmerksamkeit seinem Skript und damit sich selbst widmen. Dabei schuldet der Redner seine Aufmerksamkeit dem Publikum. Nur dann ist Dialog möglich. (Ja, ich glaube an den Dialog im Monolog, auch in der ganz klassischen Redesituation, wenn einer spricht und die anderen zuhören.) Ich bin hier etwas radikal: Ablesen darf heute kein Thema mehr sein.
Deshalb braucht es die memoria. Und die ist wie der ganze Rest der systematischen Rhetorik rund 2500 Jahre alt. Damals kannte man noch kein Drag und Drop und keine Laserdrucker und war darauf angewiesen, frei reden zu können.
Und wie steht’s mit Stichwortzetteln? Je nach Redesituation sind sie durchaus eine Möglichkeit. Ich sehe sie aber eher als Schritt weg vom Skript hin zur freien Rede. Als Vorübung sozusagen.
Damit das nicht allzu elitär klingt, möchte ich hier klarstellen: Die freie Rede ist nicht eine Frage der speziellen Begabung, sondern der Technik. Auch das wussten bereits die ersten Rhetoriker, und von ihren Tricks können wir auch heute noch profitieren. Mittels der so genannten Mnemotechnik prägte man sich den Inhalt einer Rede in folgenden Schritten ein:
- Der Redner formt seine Gedanken in Bilder um. (Bilder kann man sich viel leichter einprägen als abstrakte Informationen.)
- Er ordnet diese Bilder in einer Umgebung an, die der Reihenfolge der Punkte in der Rede entspricht. Das konnte zum Beispiel ein imaginäres Haus sein, in dem die verschiedenen Zimmer die Redeteile darstellten. In diesen Zimmern werden dann die verbildlichten Gedanken deponiert.
- Während der Rede schreitet der Redner im Geist diese Struktur ab und spricht über die Dinge, die er innerlich vor sich sieht.
Klingt irgendwie seltsam, ich weiss. Funktioniert aber sehr gut. Inzwischen gibt es viele Bücher, die uns helfen, diese alte Technik in unsere Zeit und auf unsere Redesituationen zu übertragen. Ich empfehle gerne Gregor Staubs Mega Memory als Einführung. Hier wird’s gleich von Anfang an praktisch und auch der bitterste Zweifler wird schnell überzeugt. Es muss allerdings nicht exakt diese Technik sein. Natürlich nicht. Es gibt viele Möglichkeiten, Informationen zu visualisieren und sie so der eigenen Erinnerung zugänglicher zu machen. Der Sondernutzen dieses Ansatzes: Dem Redner fällt es leichter, selbst bildhafter zu sprechen, und davon wiederum profitieren die Gehirne der Zuhörer, die sich den Inhalt so leichter einprägen (genau: wie gravieren) können.
Ich habe festgestellt, dass es mir in der Regel genügt, in der Vorbereitung (inventio, dispositio, elocutio) sorgfältig und gründlich zu arbeiten, um eine optimale Grundlage für die freie Rede zu schaffen. Das Mindmap meiner Rede hat sich dann so gut innerlich verankert, dass ich es auch ohne Papier vor mir sehe. (Wie es mir bei meiner ersten frei gehaltenen Rede versehentlich passiert ist.) Eindeutig ist, dass es mit wachsender Übung immer leichter geht. Das Gehirn scheint sich daran zu gewöhnen und hat offenbar Spass an der Herausforderung. Und nochmals: Die Schlüssel heissen Technik und Übung. Das bestätigen auch Teilnehmer meiner Rhetorik-Kurse, die sich das freie Reden nicht zutrauten und dann feststellen, dass sie mit entsprechender Vorbereitung ohne Probleme 10 Minuten ihrem Konzept entlangsprechen können, ohne es in schriftlicher Form vor sich zu haben.
Die Mnemotechnik dient dem Einprägen. Doch was wird eingeprägt? Theoretisch wäre es möglich, auf diesem Weg eine Rede auswendigzulernen. Im Wortlaut. So habe ich das früher gemacht (allerdings ohne Hilfe der klassischen Rhetoriker), weil ich panische Angst vor dem Reden vor Publikum hatte und glaubte, so am sichersten zu fahren. Das ist natürlich Blödsinn. Und wer den Wortlaut auswendig lernt, läuft zudem Gefahr, nicht weniger langweilig zu sein als der, der abliest. Viel sinnvoller ist es, sich die Struktur der Rede einzuprägen, dazu gehören die einzelnen gedanklichen Bausteine und ihre Verknüpfungen. Letzteres ist ganz wichtig und in der elocutio unbedingt zu beachten. Ob Gedanke A den Gedanken B begründet oder umgekehrt, ist nicht egal! Und wenn ich vor den Leuten stehe und merke, dass mir das selbst nicht ganz klar ist, dann habe ich meine Aufgaben nicht gemacht.
Der grösste Vorzug der freien Rede ist in meinen Augen die Möglichkeit, ungehindert mit dem Publikum zu interagieren. Es gibt aber noch einen anderen Nutzen, der dafür spricht: Wer frei reden will, muss sich gründlich vorbereiten. Er muss sicherstellen, dass er den Überblick hat und ihn auch während der Rede behält. Auf dem Fundament dieser Sicherheit ist dann Bewegung möglich – in Interaktion mit dem Publikum zum Beispiel. Wer den Überblick hat, kann umbauen, Dinge weglassen oder einfügen. Das macht Spass und hält Rede, Redner und Publikum lebendig. Die gründliche Vorbereitung hilft auch, früh genug Löcher in der Gedanken- oder Argumentationskette aufzuspüren und zu stopfen.
Es lebe die Freiheit!
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