Actio klingt nach Action. Und jetzt geht’s tatsächlich los. Wer bei den vier vorangehenden Arbeitsschritten bei der Sache war, darf jetzt die Früchte seiner Mühe ernten.
Die antike Rhetorik ist in ihren Kommentaren zur Ausführung einer Rede sehr zurückhaltend. Fast könnte man den Eindruck bekommen, dass in dieser letzten Phase nichts Entscheidendes mehr passiert. Doch der Eindruck täuscht, wie der grösste Redner der Antike, der römische Allrounder Cicero (Politiker, Philosoph, Jurist und Dichter), klarstellt:
Der Vortrag hat in der Redekunt allein entscheidende Bedeutung. Denn ohne ihn gilt auch der grösste Redner nichts, ein mittelmässiger, der ihn beherrscht, kann aber oft die grössten Meister übertreffen. (Aus De Oratore, III.213)
Je nachdem kann man diesen Kommentar als Ermutigung oder als Ernüchterung empfinden. Aber natürlich ist klar: Die Vorbereitung der Rede läuft ja auf die Rede hin, und die Rede ist, was das Publikum wahrnimmt. Keiner interessiert sich für die Unterlagen meiner Vorbereitung. Diese letzte Phase entscheidet über Erfolg und Misserfolg meines Vorhabens. Kurz gesagt: Hier geht es darum, mit dem Auftritt den vorbereiteten Inhalt der Rede zu unterstreichen und zu verstärken. (Ich muss nicht explizit darauf hinweisen, dass ein schwacher Auftritt genau das Gegenteil bewirkt und meine Absichten zunichtemachen kann.)
Unfair ist, dass in dieser letzten Phase mit voller Wucht zum Ausdruck kommt, was gemeinhin als „Talent” bezeichnet wird. Ein rhetorisch begabter Mensch wird sein Publikum durch einen Auftritt begeistern können – selbst wenn hinter diesem Auftritt nicht viel steht. Zum Beispiel keine gründliche Vorbereitung. Schon öfter habe ich von Mit-Zuhörern vernommen, wie sie sich begeistert über die Leistung eines Redners geäussert haben (“Ein toller Rhetoriker!”), obwohl die Rede weder Hand noch Fuss geschweige denn einen roten Faden hatte. Menschen lassen sich von einem souveränen Auftritt gerne blenden. Wir wollen unterhalten werden. So ist das nun einmal.
(So nebenbei: Hier kann die Rheotrik eine wichtige Funktion übernehmen – als Analyseinstrument. Das ist keine neue Idee, sondern liegt ihr quasi in den Genen. Die systematische Rhetorik will auch helfen, das Reden anderer zu analysieren und zu beurteilen. So leistet sie einen wichtigen Beitrag zum Schutz vor Manipulation. Zum Beispiel. Oder vor Blendern. Oder aufdringlichen Verkäufern.)
Da ich meine Rede gründlich und aufrichtig vorbereitet habe, muss ich nicht blenden. Und wenn in der actio auch angeborene Begabung zum Ausdruck kommt, bedeutet das nicht, dass man hier nichts lernen könnte oder alles dem Zufall (oder dem Talent eben) überlassen sollte. Deshalb einige Hinweise für einen gelungenen Auftritt. (Zu einem solchen gehört übrigens nicht nur ein überzeugtes Publikum, sondern auch ein zufriedener Redner, der Freude an der Begegnung mit den Zuhörern hat.)
- Freue dich auf die Begegnung mit dem Publikum! Du hast dich gut vorbereitet, hast etwas zu sagen, das dir wichtig ist, und wirst gleich Menschen vor dir haben, die dir zuhören wollen. Das ist doch wunderbar!
- Lächle: Geh nach vorn, sieh die Menschen an und lächle. Das ist der beste erste Eindruck, den du vermitteln kannst, und dafür gibt es bekanntlich nur eine Chance.
- Lass dir Zeit: erst lächeln, dann reden. So zeigst du, dass du Zeit hast, dass du nicht unter Druck stehst, dass du dich wohl fühlst. Und dann sprich auch so. Tendenziell reden Menschen unter Druck schneller als sonst. Damit machen sie es den Zuhörern nicht nur schwerer, den Gedanken zu folgen, sie kommunizieren auch: Ich bin unter Druck. Das wiederum setzt die Zuhörer unter Druck. Und das wiederum vermindert die Aufnahmefähigkeit.
- Steh stabil: Körpersprache ist ein grosses Thema, mit dem immer neue Bücher gefüllt werden. Ich beschränke mich hier auf eine schlichte Empfehlung: Steh stabil. Das bedeutet nicht, dass ich wie ein eingeschlagener Pflock erstarre und mich nicht vom Fleck bewege. Doch wenn ich stehe, dann stehe ich; dann wippe ich nicht mit den Füssen, dann schiebe ich mein Körpergewicht auch nicht im Zwei-Sekunden-Takt von einem Bein aufs andere. Die Art, wie jemand steht, verrät viel über seine innere Verfassung. Sicherheit und Unsicherheit sind hier so klar abzulesen, als wären sie auf die Stirn gestempelt. Steh also entspannt, beide Füsse mit den ganzen Sohlen am Boden, das Gewicht gleichmässig auf beide Beine verteilt. So wird klar: Jetzt bist du dran, und du weisst, wovon du sprichst. Da kann man sich sicher fühlen.
- Bewege dich natürlich: Das Bemühen um eine “gute” Gestik kann zum exakten Gegenteil führen: zur Verkrampfung. Und dann wirkt nichts mehr natürlich. Selbstverständlich kann man auch hier etwas lernen, doch muss man mit sich selbst geduldig sein, sonst geht der Schuss nach hinten los. Wenn du etwas verändern willst, nimm dir jeweils einen Aspekt vor. Erst dann den nächsten. Das gilt auch beim Abgewöhnen von Unarten wie dem Spielen mit Fingerring oder Schlüsselbund in der Hosentasche. Apropos:
- Leere deine Hosentaschen! Über die Frage, ob man beim Reden eine Hand in die Hosentasche stecken darf, gehen die Meinungen auseinander. Ich finde, zwischendurch ist das ganz in Ordnung, es vermittelt Lockerheit und daran erkennt das Publikum, dass ein Redner sich wohl fühlt. Daran ist nichts falsch. Gefährlich wird es jedoch, wenn in der Hosentasche ein Schlüsselbund, ein Handy oder ein anderes Spielzeug zur Verfügung steht und nur darauf wartet, von nervösen Fingern bearbeitet zu werden.
- Bleibe auch bei Aussetzern locker: Leichter gesagt als getan, das gebe ich zu. Aber es gibt eine Reihe von Tricks, die helfen, den verlorenen Faden wieder zu finden. Schau kurz zurück und fasse das Gesagte mit einigen (wenigen!) Sätzen zusammen. Die Chancen stehen gut, dass du damit nicht nur deinen Zuhörern einen Dienst erweist, sondern auch selbst wieder auf den Gedankenzug aufspringen kannst. Vielleicht reicht bereits eine kurze Pause, dazu kann dir ein Schluck aus dem Wasserglas verhelfen (das nie fehlen sollte). Von einer vorgetäuschten Ohnmacht würde ich eher abraten, die Verletzungsgefahr beim Sturz von der Bühne scheint mir unverhältnismässig gross. Und schliesslich: Bemerkungen wie “Jetzt habe ich doch glatt den Faden verloren” oder “Jetzt muss ich kurz in meine Notizen sehen” bedeuten nicht den Weltuntergang, sondern in der Regel einen Gewinn von Sympathiepunkten beim Publikum. (Auch bei der freien Rede liegen die Notizen irgendwo in Reichweite – wenn auch nicht sichtbar vor dem Redner.)
Damit schliesse ich die Werkzeugkiste für heute.
In der actio zeigt sich übrigens ein weiterer grosser Vorteil der freien Rede ohne Manuskript oder Notizkarten: Wenn ich frei rede, kann ich mich selbst beim Reden besser wahrnehmen. Ich kann aufmerksamer darauf achten, wie ich mich bewege, wie ich vor den Zuhörern stehe, was meine Hände machen. Und je nachdem, was ich wahrnehme, kann ich reagieren: Hoppla, meine Hand ist schon wieder in der ungeleerten Hosentasche – also entweder raus mit der Hand oder mit dem Schlüsselbund. (Ich würde in diesem Fall die Hand empfehlen.) Ja, solche Beobachtungen, Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen sind möglich – während du am Reden bist. Dein Hirn schafft das problemlos.
Wie in den anderen Arbeitsschritten der klassischen Rhetorik, bringen dich auch in der actio lernen und üben weiter. Eine effektive Methode dazu ist, guten Rednern zuzusehen, auf ihre Bewegungen zu achten, darauf, wie sie stehen, sich im Raum bewegen, wo sie beim Sprechen Pausen machen, das Tempo der Sprache variieren – und wie das Publikum darauf reagiert. Eine sehr ergiebige Quelle mit rhetorisch meist ausgezeichneten Referenten (und inhaltlich sehr interessanten Referaten) ist auf http://www.ted.com/ zu sehen. (Mein Favorit zur Zeit: Ken Robinson über Kreativität.) Die Redner sprechen englisch, doch viele Videos sind in diversen Sprachen untertitelt.
Ändu meint
Vielen Dank für diese Serie. Ich finde es sehr hilfreich und werde sicher ab und zu wieder auf deine Tipps zurückgreifen.
Machst du noch einen Post darüber, wie man Powepoint-Präsentationen und andere Hilfsmittel einsetzen kann, damit sie der Botschaft der Rede dienlich sind, statt davon abzulenken? Ich habe schon sehr oft miterlebt, wie sich Redner ein gehöriges Eigentor geschossen haben (ich selbst mit eingeschlossen), mit dem Versuch das Publikum mit grossartigen Effekten zu beeindrucken.
Cla Gleiser meint
Hoi Ändu.
Bitte, gerne geschehen. Und danke für den Themenvorschlag. Ich werde gerne etwas darüber schreiben, hatte mir sogar kurz überlegt, es in diesen Post zu integrieren, weil es ja zur actio gehört. Hätte aber den Rahmen gesprengt. Hab’s mir aber notiert, denn das Thema scheint mir tatsächlich wichtig. Und um dich nicht einfach nur auf später zu vertrösten, soviel gleich hier: Den grössten Fehler beim Powerpointen sehe ich darin, dass Redner ihre Präsentationen immer wieder als Erinnerungsstützen (Folien anstatt Notizkarten!) verwenden.
(Hm, das war ja eigentlich gar nicht deine Frage. Du wolltest ja wissen, wie man’s richtig machen kann…)
Auf bald!