Unsere ältere Tochter (4 Jahre) stand gestern das erste Mal auf den Skiern. Im Garten zwar, aber immerhin. Beim Mittagessen kamen wir auf die Skischule zu sprechen. Ich vermutete, dass Skischule etwa 2 Stunden Programm pro Tag bedeutet. Unsere Tochter darauf: „Wie lange ist zwei Stunden?“
Mein erster Impuls für eine Antwort war: „Das ist wie zwei Mittagspausen hintereinander.“ Das schien mir dann aber doch zu abstrakt. Meine Frau war gewandter: „Das ist so lange, wie wir brauchen, um zu Nona und Eni (meine Eltern im Bündnerland) zu fahren. – Oder so lange, wie ich brauche, wenn ich mit euch einkaufen gehe.“ Dann schaute sie mich an und meinte: „Eigentlich krass.“
Die abstrakte Vorstellung von 2 Stunden war plötzlich fassbar geworden – und durch die Gegenüberstellung einer Fahrt nach Graubünden und einer einfachen Einkaufstour hoch emotional. Der Vergleich macht fassbar, wie lange so ein Einkauf wirklich dauert. In dieser Zeit kann ich auch gemütlich ins Bündnerland fahren.
Genau darum geht es, wenn wir so kommunizieren wollen, dass Menschen betroffen sind: Unser Reden und Schreiben muss fassbar sein, es muss einschlagen. Keinesfalls dürfen wir uns darauf verlassen, dass „die anderen das dann schon einordnen können, schon merken, wie viel (oder wenig) das ist.“ Diese Arbeit kann und will der Leser oder Hörer nicht leisten. Und er sollte es auch nicht müssen. Das ist nämlich Aufgabe dessen, der etwas mitzuteilen hat.
Ein gutes Beispiel dafür, wie man Zahlen fassbar machen kann, bot der Kandidat für die US-Präsidentschaft, John Kerry, 2004 in einer Debatte gegen George W. Bush. Thema war der Krieg im Irak, und Bush betonte die starke Koalition, die hinter der Offensive stand. Kerry erwiderte:
Mr President, Länder verlassen die Koalition, sie schliessen sich ihr nicht an. Wenn Missouri – und ich meine nur die Anzahl Menschen aus Missouri, die drüben Militärdienst leisten – ein Land wäre, wäre es das drittgrösste Land in der Koalition, nach Grossbritannien und den Vereinigten Staaten. Das ist keine grosse Koalition. 90% der Gefallenen sind Amerikaner, 90% der Kosten kommen aus Ihrer Tasche [zeigt auf das Publikum].
(Mr President, countries are leaving the coalition, not joining. Eight countries have left it. If Missouri – just given the number of people from Missouri who are in the military over there today – were a country, it would be the third largest country in the coalition, behind Great Britain and the United States. That’s not a grand coalition. 90% of the casualties are American, 90% of the costs are coming out of your pockets.)
Kerrys Vorgehen ist ausgesprochen clever. Dem Publikum wird drastisch vor Augen geführt, wie klein der Beitrag der von Bush so gerühmten Koalitionspartner ist. Die Soldaten aus Missouri allein sind mehr als die aller anderen Koalitionspartner mit Ausnahme der Briten. Und wo fand die Debatte statt? In Missouri natürlich. Dieser raffinierte Vergleich muss ihnen die Verhältnisse drastisch vor Augen geführt haben. (Leider sabotierte Kerry sich mit einer schludrigen Präsentation dieser Gedankenkette selbst. Seine Intonation war ohne Akzente und zudem redete er viel zu schnell, so dass man mit Denken kaum nachkam. Der Berater, der diesen grossartigen Einfall hatte, muss sich grün und blau geärgert haben.)
So werden Zahlen spürbar. Wer jemandem davon abraten will, Kinder zu haben, sollte in Zukunft also nicht mehr sagen: „Wenn man Kinder hat, dauern auch die Kleinigkeiten des Alltags plötzlich viel, viel länger.“ Besser wäre: „Wenn du mit Kindern einkaufen gehst, dann dauert das so lange wie eine Fahrt in die Berge.“ Das sitzt. Wichtig zu beachten ist dabei, dass der Vergleichswert etwas mit dem Leben des Lesers oder Hörers zu tun hat. Der Bündnerland-Vergleich hinterlässt bei mir deshalb einen solchen Eindruck, weil wir diese Fahrt öfter machen. Kerrys Missouri-Vergleich hat die stärkste Wirkung natürlich in Missouri.
Unsere Gefühle können mit Zahlen wenig anfangen. Gerade die Gefühle sind aber ein wichtiger Ansprechpartner. Wenn sie unbeteiligt und unbewegt bleiben, werde ich kaum Eindruck hinterlassen mit dem, was ich sage. Dazu kommt: Wenn ich mich bemühe, eine Zahl (oder einen anderen abstrakten Inhalt) fassbar zu machen, rutsche ich selbst ja auch näher an meine Botschaft heran. Dass das Einkaufen mit Kindern länger dauert als ohne, war mir immer schon klar. Aber gleich lange wie eine Fahrt in die Berge? Wahnsinn!
Rahel meint
Zahlen können wirklich erschlagen – so wie die Zahlen der Opfer von Haiti. Von bis zu 200000 Menschen ist die Rede, die ihr Leben verloren haben. Wie kann man solche Zahlen ‚fassbar‘ machen? Sich vorstellen, dass ca. nur jeder dritte Bewohner der Stadt Zürich (geschätzte 300000 Einwohner) noch leben würde? Und etwa die Hälfte der Schweizerbevölkerung sässe jetzt nicht in einem gemütlichen Haus, sondern auf der Strasse bzw. im Zelt? Leider gibt es Zahlen, die mein (emotionales) Fassungsvermögen übersteigen. Kleinere Einheiten, wie die 2 Stunden, sind schon einfacher zu handhaben.
Auf jeden Fall danke für die Erinnerung, bildliche und dem Gegenüber angepasste Vergleiche zu benutzen. En guete Sunntig, Rahel
Cla Gleiser meint
Gerade solche Zahlen müssen unbedingt fassbar gemacht werden – auch wenn es traurig ist, dass sie uns nicht automatisch mit ihrer ganzen Wucht treffen. Kommunikation muss betroffen machen, ganz speziell, wenn es um solche Themen geht. Deinen Vergleich mit Zürich finde ich erschütternd. Ich stelle mir vor, wie ich in einem Kaffe in Zürich sitze. Plötzlich verblassen zwei Drittel der Anwesenden, dann sind sie verschwunden. Ausgelöscht.