Die Nächte vor meinen Geschichtsreferaten am Gymnasium verbrachte ich schlaflos. Schon der gewöhnliche Unterricht war der Horror, aber die Aussicht, vor versammelter Klasse und meinem Lehrer alleine dazustehen, lähmte mich vollends. Und leider wiederholte sich das Szenario jedes Semester, bis er in Pension ging.
Heute kann ich wenigstes sagen, dass ich weiss, wovon ich spreche, wenn ich das Wort „Redeangst“ in den Mund nehme.
Natürlich tat ich alles, um mich so gut es ging abzusichern. Meine Referate lernte ich im Wortlaut auswendig und versuchte mich davon zu überzeugen, dass so ja eigentlich nichts mehr schief gehen konnte. Doch die Angst blieb.
Es dauerte lange, bis ich die ersten positiven Erfahrungen mit dem Reden vor Publikum machte. Heute habe ich meine Ängste hinter mir gelassen und Spass daran, vor Menschen zu reden.
Was ist passiert?
Äusserlich hat sich kaum etwas geändert: Einer redet, die anderen hören zu. Aber innerlich ist alles anders geworden.
„Alles“ erkläre ich in zwei Punkten. Es sind zwei Sargnägel, die die Redeangst dorthin bannen, wo sie hingehört:
1. Ich liebe mein Publikum
Irgendwann begriff ich, dass mein Geschichtslehrer einen Defekt bei mir hinterlassen hatte. Wie eine Beule im Auto. (Ich unterstelle ihm dabei keine böse Absicht, aber Tatsache ist nun einmal, dass ich verbeult aus dem Geschichtsunterricht kam.) Während ich darum kämpfte, lebendig durch mein Referat zu kommen, sass er in der Klasse und machte sich Notizen zu meiner Leistung. Eigentlich redete ich ja nur für ihn.
Und eigentlich redete ich gegen ihn.
Reden war ein Kampf, den ich zu gewinnen hatte – oder mindestens zu überleben. Und irgendwann sah ich das ganze Publikum so und jeder Auftritt vor der Klasse war eine Kriegserklärung.
Mit dieser Einstellung konnte ich natürlich nicht frei reden, weil ich nicht frei war.
Die Rhetorik ist in erster Linie aber nicht auf Kampfreden angelegt. In ihren Genen steckt die Demokratie, deren Entstehung eng mit ihrer eigenen Geschichte verbunden ist. Rhetorik war dazu da, Gedanken klar und überzeugend auszudrücken und zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen.
Kurz: Rhetorik war dazu da, miteinander zu reden.
Diese Einsicht hat meine Perspektive als Redner radikal verändert. Ich muss gegen niemanden anreden. Im Gegenteil. Die Rede – auch die Rede vor Publikum – ist ihrem Wesen nach ein Dialog. Auch dann, wenn das Publikum nichts sagt.
Es war, als hätte einer einen Schalter in meinem Kopf gedrückt. Ich begann, nicht mehr zu Menschen zu sprechen, sondern mit ihnen. Eine Rede wurde immer weniger Kampf und immer mehr gemeinsames Wegstück. Eine kurze Reise, auf die ich mich mit meinen Zuhörern begab und immer wieder begebe. Bis heute hat sich daran nichts geändert.
Wie hat Morrissey gesungen?
Such a little thing
Such a little thing
But the difference it made was grave.
2. Ich schaue dem Albtraum in die Augen
Redeangst ist meistens diffus. Das ist ihre Stärke, denn so ist sie kaum fassbar. Es ist aber auch ihre Schwäche, denn wenn wir genau hinsehen, bleibt in der Regel nicht viel von ihr übrig. Sie verflüchtigt sich wie ein Hauch Mundgeruch.
Wenn ich vor einer Rede eine unangemessene Anspannung spüre, dann frage ich mich: „Was ist denn nun das Schlimmste, das mir passieren kann? Was wäre heute der absolute Albtraum?“
- Dass ich den Faden verliere?
- Dass ich mich verhasple?
- Dass die Zuhörer sich langweilen?
- Dass einer dazwischenruft?
- Dass einer mich erschiesst?
- Dass das Mikro defekt ist?
- Dass ich von der Bühne falle?
- Dass mir die Hose herunterfällt?
- Dass die Zuhörer mich nicht mögen?
Dann schaue ich mir jede einzelne Angst an und denke sie weiter – bis zum bitteren Ende: Was geschieht denn nun, wenn ich den Faden verliere?
Ich nehme einen Schluck aus dem Wasserglas und gebe meinen Gedanken die Möglichkeit, wieder zu meinem Mund aufzuschliessen. Und wenn das nicht reicht, dann sage ich: „Jetzt habe ich doch glatt den Faden verloren. Da sind meine Gedanken wieder einmal mit mir durchgegangen.“ Und dann schaue ich in meine Notizen und mache weiter.
Werde ich dafür verachtet werden? Eher nicht. In der Regel fördern solche Zwischenspiele sogar die Sympathie zum Redner.
Dasselbe gilt für Versprecher.
Und die gelangweilten Zuhörer? Sie sind eine Realität. Man begegnet ihnen in jedem Publikum. Das liegt manchmal an langweiligen Rednern. Manchmal aber auch daran, dass solche Menschen mit zur Schau getragener Langeweile signalisieren wollen: „Ich weiss schon alles.“ Solche Langweiler belasten mich nicht.
Der Umgang mit Zwischenrufen ist nicht immer einfach. Aber zuerst darf ich mir die Frage stellen: Wie realistisch ist es, dass in diesem Publikum tatsächlich jemand den Mut aufbringt (denn den braucht es), seinen Mund aufzumachen? Und wenn auch: Möglicherweise ist es ja ein konstruktiver Gedanke, der mein Reden sogar noch fördert. Meine Zuhörer sind meine Freunde, nicht meine Gegner.
Dass ich erschossen werde, ist wenig wahrscheinlich, genauso wie der Sturz von der Bühne. Diesen Ängsten in die Augen zu schauen, reicht bereits, um sie sich verflüchtigen zu lassen.
Wenn das Mikro kapputtgeht, kriege ich wahrscheinlich ein anderes und rede sonst ohne weiter.
Für den extrem unwahrscheinlichen Fall, dass an meiner Hose tatsächlich Gürtel und Knöpfe gleichzeitig versagen und so quasi „alle Stricke“ reissen: Dann halte ich meine Hose mit einer Hand fest, informiere mein Publikum über meine missliche Lage und bin zu 100% sicher, dass der Bericht über meine Rede so weite Kreise ziehen wird, wie bei keinem früheren Auftritt.
Die Angst, dass die Zuhörer mich nicht mögen, steckt vermutlich im Kern jeder Redeangst. Wir wollen geschätzt und geliebt werden. Daran ist doch nichts falsch. Der erste Schritt zur Verwirklichung dieses Traumes ist, was ich oben beschrieben habe: Ich muss mein Publikum lieben.
Ich glaube wirklich: Dann kommt auch Liebe zurück. Und des Weiteren gilt: Man kann es einfach nicht allen Recht machen. Wenn ich mich klar äussere und klar Position beziehe, dann ist ebenso klar, dass einige nicht einverstanden sein werden. Vielleicht auch viele.
Der bedrohlichste Redner-Albtraum verblasst, wenn wir ihn zu Ende denken. Kein Missgeschick, das mir vor Publikum passieren könnte, kann mich mehr davon abhalten, mich hinzustellen und mit diesen Menschen auf eine Reise zu begeben.
[…] 2 Sargnägel für die Redeangst […]