Vor einigen Tagen erreichte mich per E-Mail die Einladung zu einem Anlass über Jugend und Kultur. Und siehe da, aus einem einfachen Mail ergab sich eine Lektion darüber, dass der verstanden wird, der sagt, was er meint – auch (oder gerade) dann, wenn der, der ihn versteht, sich einreden möchte, ihn missverstanden zu haben.
Klingt kompliziert? Dann also zur Fallstudie. Am letzten Samstag hatte ich dieses Mail in der Inbox:
Vielleicht kommt dieses E-Mail mehrmals, dafür Entschuldigung, aber es ist mir wichtig.
Zum Abschluss des Kulturfestivals werden an einer Podiumsdiskussion Lösungsansätze zum Thema gesucht „Wie jungen Menschen Kultur näher bringen?“
[…]
Hier wird sich vielleicht an der Teilnehmerzahl zeigen, ob überhaupt Interesse besteht, dass jungen Menschen Kultur näher gebracht wird. Ich hoffe, dass dies möglichst viele interessiert. Grosse Bitte: Sagt es allen weiter, welche daran mitwirken könnten, sei es als Eltern, Lehrer oder Politiker. Es gibt genügend Platz im grossen Saal […]
Mich hat gefreut, wie man aus diesen Zeilen das Engagement des Verfassers herausspürt. Eine solche Einladung bewegt – da ist es nicht ganz so einfach, mal schnell die Delete-Taste zu drücken. Besonders die Vermutung, dass sich an der Teilnehmerzahl das allgemeine Interesse ablesen lasse, bewegte mich. Etwas unbequem war sie, irritierend wie eine Fischgräte im Hals. Aber gerade deswegen wirkungsvoll in der Kommunikation.
Offenbar sahen es aber nicht alle Empfänger so.
Drei Tage später folgte ein weiteres E-Mail desselben Absenders:
Jemand hat mich freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass mein Satz, Grösse des Interesses am Thema werde sich in der Besucherzahl spiegeln, missverstanden werden könnte.
Ich wollte natürlich nicht aussagen, dass, wer nicht hinkommt, kein Interesse am Thema habe. Es gibt viele valable Gründe dafür verhindert zu sein. Und man kann Jugend und Kultur auch auf andere Art fördern. Aber statistisch gesehen sagt eine grosse Besucherzahl natürlich sehr wohl etwas über das Interesse aus. Es ist ein Unterschied, ob 3% oder 6% der Angeschriebenen den Anlass besuchen. Und wenn Sie persönlich nicht kommen können, aber möchten, dann geben Sie den Tipp ja ohnehin weiter.
Da war der Verfasser der Einladung wohl zu weit gegangen. Ein anmassender Gedanke, dass das Interesse am Thema einer Veranstaltung in einer Beziehung zur Besucherzahl stehen könnte. (Hier könnte ich nun ein Sarcmark setzen und hätte damit einen Teil der $ 1.99 bereits amortisiert.) Nein, das ist wirklich zu weit hergeholt. Auch dass beispielsweise unsere Kirchen leer bleiben, hat nichts mit mangelndem Interesse zu tun. Die meisten Leute, die nicht da sind, sind schlicht verhindert. Aus „valablen Gründen“. Wahrscheinlich liegt der Termin für den durchschnittlichen Gottesdienst einfach ungünstig. Da können sich die Kirchenarbeiter ja trösten.
Der Anlass zu Jugend und Kultur findet am Sonntagabend statt, und da verlässt der Schweizer seine gute Stube wohl nur ungern. Der populärste „valable Grund“, so würde ich vermuten, wird wohl so formuliert: „Soll ich am Sonntagabend wirklich noch raus aus der gemütlichen Stube? Und den Krimi verpassen?“
Ich habe dem Einlader zurückgeschrieben:
Ich fand den Hinweis, dass das Interesse am Thema sich an der Besucherzahl zeige, ebenfalls irritierend – aber gerade deswegen passend und mutig. In Watte gepackte verbale Freundlichkeiten, die nichts bewegen (weder innen noch aussen), haben wir in unserer Alltagskommunikation schon mehr als genug.
Natürlich geht es überhaupt nicht darum, dass der scheinbar verfängliche Satz missverstanden werden könnte. Es geht hier nicht um Missverständnisse, sondern darum, dass klare und zugespitzte Kommunikation Reaktionen hervorruft. Und genau das soll sie ja auch.
Ausserdem: Die Behauptung, der Zusammenhang zwischen Besucherzahl und Interesse sei nicht zwingend, ist schlicht ein Witz. Ich gebe ja zu: Nicht jeder, der will, kann auch. Aber die meisten, die wollen, können. Und die meisten, die nicht „können“, wollen auch nicht.
Und von denen, die sich mit jedem Satz angegriffen fühlen, der nicht sorgfältig in könnte, würde, möchte und dürfte eingepackt ist, lasse ich mir die Lust am klaren Reden und Schreiben sicher nicht vermiesen. Und der Einlader hoffentlich auch nicht.
Leo Hackl meint
Hm hm, da habe ich doch wirklich den Nagel auf den richtigen Adressaten getroffen. Big smile. Ich hoffe Sie HABEN Interesse, sprich ich werde Sie kennen lernen.
Einen schönen Samstag noch und bis Sonntagabend!
Ihr Leo Hackl
Rahel meint
Und, Cla? Hast du dein wohliges Heim am besagten Sonntagabend noch verlassen und dem Thema Jugend und Kultur dein Interesse bekundet mit deiner Anwesenheit? Wie viele Leute waren denn da? Lieber Gruss, die neugierige Rahel
Cla Gleiser meint
Liebe neugierige Rahel
Welch gewagter Kommentar.
Was, wenn ich nicht gegangen wäre? Dann hätte ich das hier in aller Öffentlichkeit zugeben müssen, nachdem ich mich eben noch bissig über die Stubenhocker lustig gemacht hatte. Du hättest mich zu einem Eingeständnis gezwungen, das – einmal im Internet publiziert – nicht mehr zu widerrufen gewesen wäre. Mein Ruf als glaubwürdiger Blogger und objektiver Kommentator des sprachlichen Zeitgeschehens wäre dahin gewesen.
Natürlich hätte ich deinen Kommentar auch löschen können. Doch da du hier regelmässig deine Gedanken hinterlässt (was ich sehr schätze), wurde er direkt freigeschaltet – ohne dass ich eine Chance gehabt hätte, ihn vorher abzuwürgen. Ein Löschen wäre demnach dem Eingeständnis gleichgekommen, das ich oben beschrieben habe.
Du siehst: Mit oder ohne Absicht hast du meine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt.
Glücklicherweise bin ich gegangen.
Ich und noch ein paar andere.