Vor drei Tagen habe ich den neuen Roman von Paul Auster zu Ende gelesen: Invisible (deutsch Unsichtbar).
Die letzten Seiten einer Erzählung sind immer ein besonderes Erlebnis. Was macht der Autor nun aus der Welt, die er erschaffen und gestaltet hat? Wie lässt er sie zurück? Wie wird es den Menschen in dieser Geschichte ergehen, die mir vertraut geworden sind?
Das Buch hat mich begeistert. Einmal mehr ist es mir mit einem Roman von Auster so ergangen.
Dass Schriftsteller über Schriftsteller schreiben ist ja nun beileibe nichts Neues. Doch Auster vermag aus diesem alten Thema heraus eine besondere Nähe zum Leser zu erzeugen. Diese Nähe fördert und fordert. Das Leseerlebnis wird intensiver und dadurch sowohl schöner (darum geht es ja vor allem) wie auch ertragreicher. Fast kommt es mir so vor, als würde nicht nur ich den Auster lesen, sondern der Auster auch ein bisschen mich.
Mein erstes Buch von Paul Auster erstand ich vor sechs Jahren in Freiburg im Breisgau. Kurz zuvor hatte ich eine Rezension seines aktuellen Romanes Oracle Night (Die Nacht des Orakels, übrigens mein Favorit unter Austers Erzählungen) gelesen und war neugierig geworden. In den Ferien wollte ich mir Oracle Night besorgen, hatte aber Pech; es war in der Buchhandlung nicht vorrätig. So griff ich halt zum erstbesten, das sich als Ersatz anbot. (In meinem Fall heisst das gewöhnlich: das mit dem ansprechendsten Umschlag.) Ich kaufte also The New York Trilogy (Die New York Trilogie), eine Sammlung von drei kürzeren Erzählungen.
Das Lesen der ersten dieser Erzählungen (City of Glass, Stadt aus Glas) wurde zum Abenteuer; zu jener Art von Abenteuer, die Lesen eigentlich immer sein sollte. City of Glass veränderte meine Sicht vom Lesen und vom Schreiben und davon, was man mit einer Geschichte machen kann.
Doch eigentlich will ich nicht über City of Glass schreiben, sondern über Invisible.
Auster schreibt oft, sehr oft, über das Schreiben, über die Entstehung von Büchern. Auch bei Invisible steht ein Buch im Zentrum. Die Geschichte wird dabei von drei verschiedenen Erzählern berichtet, wobei sich dabei nicht einfach ein Bericht an den anderen reiht. Die verschiedenen Perspektiven überlagern sich vielmehr. So besteht zum Beispiel ein Teil des Buches aus einem Bericht, den einer der Erzähler aufgrund der Notizen eines anderen verfasst hat.
Paul Austers Stimme als „eigentlicher“ Autor dieses Buches ist überhaupt nicht zu vernehmen. Es gibt ihn hier nicht, den klassischen allwissenden Erzähler, der nicht selbst Teil der Geschichte ist. Auch das ist nichts Besonderes. Besonders ist aber, dass die Sprache von Invisible dies nicht immer offenbar macht. Es gibt wohl Sequenzen, die in der 1. Person erzählt werden, aus der Sicht eines Ich-Erzählers also. In diesen Passagen ist offensichtlich, dass hier eine Figur der Erzählung aus ihrer Sicht beschreibt, mit all den persönlichen Unschärfen, die diese Sicht mit sich bringt. Dann aber wird auch „klassisch“ in der 3. Person („er, sie“) berichtet – und auch hier aus der Sicht eines der Erzähler im Buch, nicht aus der eines allwissenden Autors. Und schliesslich gibt es auch einen Bericht in der 2. Person („du“). Das ist höchst gewöhnungsbedürftig, löste in mir aber ganz besondere Reaktionen aus, weil ich mich als Leser konstant direkt angesprochen fühlte und mich daher ebenso konstant distanzieren musste. Schliesslich war nicht ich gemeint. – Oder etwa doch?
Kein klassischer allwissender Erzähler. Paul Auster ist in diesem Buch ganz unsichtbar – invisible. Gut möglich, dass er sich auf diese Weise selbst in den Titel hineingeschrieben hat. (Wie bei Auster üblich ist zwischen dem Titel und der Geschichte kein eindeutiger Zusammenhang erkennbar. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick.)
Dieses gegenseitige Durchdringen von Erzähler- und Erzählungsebenen hat auf mich die Wirkung, dass ich als Leser selbst Teil der Geschichte werde. Es ist 3-D-Kino in Buchform. Letztlich ist das Buch, dessen Entstehung im Roman thematisiert wird, das Buch, das ich physisch in Händen halte. (Das erinnerte mich an den genialen Charlie-Kaufman-Film Adaption, der die Entstehung des eigenen Drehbuchs zum Thema hat und die verschiedenen Ebenen so gekonnt und wild durcheinanderwirbelt, dass einem schwindlig wird.)
Klingt kompliziert und verwickelt?
Dieser (von mir allerdings nur vermutete) Einwand bringt mich zum springenden Punkt:
Paul Auster vermittelt die Zusammenhänge der verschiedenen Erzähl(er)ebenen mit einer solchen Leichtigkeit und in solch schlichter Sprache, dass es eine wahre Freude ist. Hier ist nicht grosses Kopfzerbrechen angesagt, sondern zuhören. Auster ist ein Geschichtenerzähler, und ein Geschichtenerzähler will verstanden werden. Auster ist daher auch ein genialer Kommunikator.
Ich liebe Geschichten. Dabei habe ich noch nicht einmal überhöhte Ansprüche. Die Geschichte muss einfach in sich wahr sein. Die Figuren müssen sich glaubwürdig verhalten, das heisst, sich selbst und ihren tiefsten Motiven treu sein. Das reicht mir eigentlich schon. Und dann lasse ich mich gerne darauf ein.
Vermutlich bin ich mit diesem Bedürfnis nicht allein. Der Hype, der in den letzten Jahren rund um „Story-Telling“ entstanden ist, scheint das zu bestätigen. Es werden Bücher geschrieben und Seminare organisiert und besucht.
Lieber als ein Buch über Story-Telling lese ich aber ein Buch mit einer guten Story. Von den Besten lernen – warum nicht auf diesem Weg?
So stelle ich sicher, dass ich die Kraft starker Geschichten immer wieder am eigen Leib erfahre.
Thomas Geiser meint
Ob das nun wirklich eine gute Geschichte mit glaubwürdigen Figuren ist??
Ich finde das Ganze sehr aus den Fingern gesogen. Ein undurchschaubarer Typ, zur Sicherheit auch so bezeichnet, dann gleich eine Frau mit langen Blicken (der Leser wird geködert), und beim rein zufälligen 2. Treffen gleich das Angebot für die Zeitschrift. Das ist doch nicht einmal gut erfunden.
Cla Gleiser meint
Danke für deinen Kommentar, Thomas.
Glaubwürdige Figuren? – Ich finde schon.
Innerhalb der Geschichte geht das aus meiner Sicht und meinem Empfinden nach bestens auf. Und eine Erzählung folgt ja einer eigenen Logik. Ich habe vor Kurzem übrigens ein Interview mit Paul Auster gehört, wo er darüber spricht, dass ihm immer wieder vorgeworfen werde, seine Geschichten seien angefüllt mit unglaubwürdigen Zufällen. Aber das ist tatsächlich seine Sicht des Lebens (so sagt er das jedenfalls): Zufall über Zufall. In den Sammlungen „The Red Notebook“ und „Why Write?“ stellt er solche Zufälle zusammen – nicht erfunden, sondern mitten aus dem Leben heraus.
Hast du schon andere Bücher von Auster gelesen? Solche, die dir besser gefallen haben?
Herzlicher Gruss
Cla