Wie bereitet sich eigentlich ein Mitglied des Publikums auf einen Redner vor?
Das hat Stefan in einem Kommentar gefragt, nachdem ich vor zwei Monaten Tipps dazu gegeben hatte, wie ein Redner sein Publikum mit direkten oder indirekten Entschuldigungen vergraulen kann.
Wie werde ich ein guter Zuhörer? Eine gute Frage, die ich mir – ehrlich gesagt – weniger oft stelle als die nach dem guten Redner.
Um die enorm weite Frage etwas einzugrenzen, wende ich mich einmal mehr kurz der klassischen Rhetorik zu. Sie hat für den Redenanfang 3 Ziele definiert, die der Redner für die Gestaltung des Redeanfangs zu berücksichtigen hat. Er muss
- Interesse für sein Thema wecken, damit die Zuhörer neugierig und aufnahmebereit werden.
- das Wohlwollen der Zuhörer gewinnen, damit sie bereit sind, ihm – und gerade ihm – zuzuhören.
- den Hauptteil inhaltlich vorbereiten, also ins Thema einführen.
Diese 3 Ziele sind ein guter Ausgangspunkt für ein Profil des guten Zuhörers. Ein solcher ist
- wach und aufmerksam,
- dem Redner gegenüber offen und wohlwollend und
- am Thema interessiert.
Gut, ein schlafendes oder zumindest dösendes Publikum kann auch entspannend wirken und die Redeangst verfliegen lassen, aber gewöhnlich wünsche ich mir als Redner doch, dass meine Worte auf wache Ohren stossen. Doch wie zeige ich – im Publikum sitzend und in meinen Ausdrucksmöglichkeiten auf meinen Körper beschränkt – dass ich wach und aufmerksam bin? Sicher nicht, indem ich mehr horizontal als vertikal in meinem Sessel hänge. Eine aufrechte Haltung und angmessene Körperspannung zeigen, dass ich in Erwartungsposition bin, dass ich ganz hier bin. Das wichtigste Signalwerkzeug des Zuhörers jedoch sind die Augen. Hier kommt die Wachheit am klarsten zum Ausdruck. Also entscheide ich mich für einen solch wachen Blick und gegen die dämmernden Schlafzimmeraugen. Ein guter Redner pflegt intensiven Augenkontakt mit seinem Publikum. Dabei will ich ihm begegnen und ihm etwas zurückgeben. Wenn ich rede, suche ich mir gezielt solche Menschen im Publikum, weil sie mich motivieren und inspirieren. Und wenn ich Zuhörer bin, dann will ich vom Redner im Publikum als solche Person entdeckt werden.
Wir lieben Schubladen. Auch Vorurteile sind Schubladen – Schubladen mit unendlich viel Platz in Schubladenmöbeln, die unendlich erweiterbar sind. Wenn ich einen sehe, für den ich noch keine Schublade habe, dann eröffne ich einfach eine neue. So einfach geht das! Auch beim Zuhören zeigt sich dieser Hang zum Etikettieren: Meine Güte, die Krawatte! Meine Güte, der hat nicht einmal eine Krawatte an! Meine Güte, der hat eine Krawatte an! – Es gibt 100o Gründe, jemandem mit Vorbehalt zu begegnen. Ich rede aber lieber vor Menschen, die mir gegenüber offen und unvoreingenommen sind. Und ein solcher Zuhörer möchte ich auch sein. Nicht nur unvoreingenommen, sondern wohlwollend, also positiv voreingenommen. Dazu muss ich bereit sein, mir etwas sagen zu lassen, mich vom Gedanken verabschieden, eh alles besser zu wissen. Dieser Gedanke ist die beste Voraussetzung dafür, nichts dazuzulernen. Und zwar eben nicht, weil ich eh schon alles weiss, sondern weil ich zu blockiert bin, etwas Neues aufzunehmen. Und wo findet diese Offenheit ihren Ausdruck? – In einem Lächeln (und natürlich auch in den Augen).
Auch fehlendes Interesse kann meine Lernfähigkeit reduzieren oder gar vernichten. Dabei bin ich der Meinung, dass man sich wirklich für alles interessieren kann, wenn man will. Natürlich ist das viel einfacher, wenn ich einem Referat über mein Lieblingsthema lauschen darf. Wenn es zum Beispiel darum geht, ob Dracula einen Kampf gegen Frankensteins Monster gewinnen könnte (was natürlich absoluter Blödsinn ist, Frankensteins Monster wäre der sichere Sieger), dann bin ich ganz Ohr, voll aufnahmefähig – und der Referent wird mir das auch ansehen. Anders jedoch, wenn ich zu einer Weiterbildung über die verschiedenen Knüpftechniken von Orientteppichen gezwungen werde. Mein natürliches Interesse ist hier eher gering. Deshalb habe ich aber noch lange nicht verloren. Es braucht einfach etwas mehr, um in den Zustand echten Interesses zu geraten. Dazu befasse ich mich schon im Voraus mit dem Thema und überlege mir einige Fragen. (Das heisst nicht, dass ich ein Buch über Orientteppiche lese. Ich schalte einfach mein Hirn ein und denke mich etwas in das Gebiet hinein.)
- Zum Beispiel könnte mich interessieren, wie man den Wert eines geerbten Teppichs bestimmt.
- Oder wie lange das Knüpfen eines Quadratmeters Teppich dauert.
- Oder 0b Teppichmuster sich an traditionellen Motiven orientieren oder einfach Lust und Launen des Knüpfers folgen.
- Oder wie Orienttepppiche zu ihrem guten Ruf gekommen sind, während kein Mensch sich für die Teppichknüpfkunst des Zürcher Oberlandes interessiert.
So werde ich zu einem aktiven Zuhörer, der die präsentierten Informationen laufend verarbeitet. Und natürlich sieht mir das der Redner an.
Eine reizvolle und gedankenerweiternde Hirnübung kann darin bestehen, eine Brücke zu schlagen vom scheinbar uninteressanten Thema zu einem „meiner“ Themen. Allenfalls bringen Erkenntnisse über das Teppichknüpfen mich der Antwort auf die monumentale Frage näher, ob Dracula Frankensteins Monster besiegen könnte. Würde es einen Vorteil für einen der Kämpfer bedeuten, wenn die Begegnung auf einem Teppich stattfindet?
Und das Beste zum Schluss. Die Frage nach dem guten Zuhörer ist in zwei Schritten ganz schnell zu beantworten:
- Welche Zuhörer sind mir die liebsten, wenn ich rede?
- Was macht mich zu einem solchen Zuhörer?
Und übrigens: Es ist durchaus erlaubt, dieses Prinzip auch auf ganz normale Gespräche anzuwenden. Dazu brauche ich keinen grossen Auftritt.
Stefan Gisiger meint
Jede „Medaille“ hat also zwei Seiten, auch die Rhetorik für Redner. Die Sache so aufzugleise(r)n gefällt mir. Natürlich werde ich das als Zuhörer *sofort* ausprobieren – das nächste Mal – versprochen. Denn ich als regelmässiger Redner wurde als nicht vorbereiteter Zuhörer ertappt.
Für mich sind die zwei Schlussfragen eine sehr gute Gedankenstütze.
Mal sehen was sich aus dieser Anleitung für ein regelmässig zuhörendes Gottesdienstpublikum machen lässt.
Vielleicht lade ich dich ja auch einmal zu einer Publikumsschulung ein ;-)…..
Cla Gleiser meint
Danke Stefan.
Der Anfahrtsweg der Rhetorik für Zuhörer ist übrigens kein bisschen neu. Von Anfang an wollte die Rhetorik auch das sein: Instrument für den Hörer, der dadurch nicht nur aufmerksamer, sondern auch kritischer wird. (Und ich kann mir die Frage nicht verkneifen, setze sie aber immerhin in Klammern: Ob wir dieses kritischere Publikum in unseren Kirchen überhaupt wollen?)