Es gibt verschiedene Gründe, einen Missgriff nicht einfach als „Fehler“ oder als „falsch“ zu bezeichnen. Und es gibt verschiedene Methoden, einen klaren kritischen Positionsbezug mehr oder weniger elegant zu umschiffen.
Blick.ch zitiert den Bischofsvikar des Bistums Chur mit einem Kommentar zur Anstellung eines Priesters, der sich über Jahre sexueller Übergriffe schuldig gemacht hat. Auf die Frage, ob er vom Verhalten des Klosters enttäuscht sei, welches von den Übergriffen gewusst, das Bistum aber nicht informiert hatte, antwortet der Bischofsvikar:
Natürlich wäre es richtiger gewesen, man hätte uns darüber informiert.
Richtiger?
Was lässt sich aus dieser eigenartigen Steigerung von „richtig“ folgern? – Dass es so, wie es gelaufen ist, auch richtig war, aber halt eben etwas weniger richtig. Vielleicht auch nur ein bisschen richtig oder durchschnittlich richtig. Auf jeden Fall aber auch richtig – und damit nicht falsch.
Es hat also niemand einen Fehler gemacht. Wir sind erleichtert.
Hätte Casetti gesagt: „Natürlich wäre es richtig gewesen, man hätte uns darüber informiert“, dann hätte er damit ausgedrückt, dass das Vorgehen nicht richtig gewesen war. Und nicht richtig bedeutet falsch.
Aua.
Ich weiss nicht, ob er das nicht sagen wollte oder konnte oder durfte. Doch sicher wäre es die angemessene Art gewesen, von solchem Versagen zu sprechen.
Und die korrekte. Denn „richtiger“ ist ja eigentlich eine ziemlich widersinnige Verlegenheitssteigerung. Das wird spätestens dann klar, wenn man die ganze Steigerungsfolge ansieht:
richtig – richtiger – am richtigsten
In der Schule war ich wiederholt mit meinen Lehrern aneinandergeraten, weil sie partout nicht einsehen wollten, dass ich wenn auch nicht die richtigste, so doch immerhin eine richtige Lösung vorgelegt hatte. Jedenfalls sicher eine richtigere als manch anderer in meiner Klasse. Doch es half alles nichts: Für sie war immer nur das Beste (also das Richtigste) gut genug.
Wer richtig steigert, begeht Selbstwiderspruch. Das Wort trägt in sich einen radikalen Kontrastwert, der ausser Schwarz und Weiss nichts zulässt. Wer „richtig“ sagt, sagt darum meistens auch „falsch“ – wenn auch nicht explizit. Die Äusserung des Bischofsvikars zeigt dies: Hätte er „richtig“ gesagt (statt „richtiger“), wäre daraus auch deutlich „falsch“ zu hören gewesen. Richtig und falsch bilden ein unzertrennliches Paar, das es sich an den gegenüberliegenden Enden eines langen Tisches bequem gemacht hat und nicht voneinander lassen will. Richtig und falsch sind Gegenteile, zwischen denen keine Grautöne liegen. (Ganz anders zum Beispiel als gross und klein.) Genau diese Grautöne sind es jedoch, die bei einer Steigerung ausgedrückt werden.
Dank an Roman für die Anregung zu diesem Beitrag.
HeideMarie R. Ehrke meint
Lieber Cla,
auch wenn ich zu wenig Zeit habe, um mich so KLAR ausdrücken zu können und so kurz, wie Sie es hier vorbildlich meistern, so hilft mir gerade heute Ihr Beitrag über „richtig“ – echt den Rücken stärkend.
Auf Phoenix – http://www.facebook.com/Phoenix – muss ich endlich, nach EINEM Jahr Stellung beziehen zu unserem Bundespräsidenten Gauck.
Auch er liebt es zu sagen: „Ich erwäge, ist es richtiger oder weniger richtig?“ – im ARD-Film über ihn am 18.03.2013. Richtig ist jedoch wie „schwanger“.
Gekonnt „vergaukelt“ Gauck die Wahrheit in SEINEM Sinne und nach dem Motto – das NIE gesagt wird, sonst würden es die Menschen ja MERKEN: Wenn zwei oder drei GEMEINSAM die Moral brechen, dann ist es richtig und die Moral ist gerettet.
RICHTIG ist aber: entweder – oder!
Mit herzlichen Grüßen und „DANKE“
HeideMarie R. Ehrke