Möglicherweise täuscht mich meine Erinnerung. Aber ich glaube mir sicher sein zu dürfen, dass in meiner Kindheit und Jugend kaum jemand in meiner Umgebung „Hallo“ sagte. Ich sowieso nicht. Ich sagte zu meinen Freunden „Hoi“ (ich bin ein Zürcher), zu meiner Familie „Ciao“ (ich bin gleichzeitig ein halber Bündner) und zu Erwachsenen ausserhalb der Familie einfach „Grüezi“.
Und jetzt stelle ich fest, dass es um mich herum plötzlich von überallher „Hallo“ tönt. Ich muss dabei eingestehen, dass auch mir hin und wieder ein Hallo über die Lippen rutscht. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass meine Frau Österreicherin ist und „Hallo“ in Österreich durchaus an der Tagesordnung. Aber: In Österreich nennt auch kaum einer einen anderen bei der Begrüssung beim Namen. Da kommt „Hallo“ und dann nichts mehr. Ich hingegen grüsse Menschen gerne mit Namen, wenn ich den Namen (noch) weiss.
Mein Hauptproblem mit Hallo liegt jedoch darin, dass es mir sehr unpersönlich erscheint. Ein Gruss, der Distanz schafft. Klingt paradox, denn ein Gruss bedeutet in der Regel ja einen Schritt aufeinander zu. Ich habe mich jedoch selbst beobachtet und kann meine Behauptung zumindest aus diesen Beobachtungen belegen. „Hallo“ war für mich in der Regel ein Umweg, um der direkten Anrede und dem klaren Bekenntnis durch „Hoi“ oder „Grüezi“ zu entgehen – dem klaren Bekenntnis zu Du oder Sie. So grüsste ich zum Beispiel die freundliche Angestellte im Exlibris mit „Hallo“, weil mir klar war, dass ich sie im privaten Kontext sofort duzen würde, mir das hier in diesem geschäftlichen Rahmen dann aber doch irgendwie unangemessen erschien. (Ich weiss schon, ich sollte einfach lockerer werden.) Welch mörderisches Dilemma!
Doch löst das „Hallo“ in diesem Fall das Problem ja nur auf den ersten Blick. Es folgt ein ganzer Rattenschwanz sprachlicher Windungen. So gilt es in einem solchen Gespräch (mit ungeklärten Du-Sie-Konditionen) zum Beispiel, jede Verbform zu umschiffen, die einen direkten Rückschluss auf Du oder Sie zuliesse. Wenn ich also etwas bestellen wollte, dann sagte ich:
Ich möchte gerne ein Buch bestellen.
Das klingt noch einigermassen normal. Aber in jedem anderen Geschäft hätte ich gesagt:
Könnten Sie (oder könntest du) mir bitte ein Buch bestellen?
Das Schlimmste war: Mein Verhalten übertrug sich auf die Exlibris-Mitarbeiterin, so dass sie genau gleich mit mir redete. Anstatt
Hast du etwas gefunden? / Haben Sie etwas gefunden?
Hiess es dann verstümmelt:
So, etwas gefunden?
Jeder kennt solche Formulierungen. Zum Beispiel beim Sonntagsspaziergang: „So, auch unterwegs?“ Oder in der Buchhandlung vor dem Regal mit den Kochbüchern: „Aha, auch begeisterter Koch?“ Oder am Morgen im Büro: „Wieder einmal den Zug verpasst?“ Solche kümmerlichen Reste deutscher Sätze sind keine Grundlage für ein Gespräch. Noch nicht einmal vernünftiger Smalltalk ist möglich, weil man ständig darum bemüht ist, auf dem sprachlichen Minenfeld vorsichtig einen Fuss vor den anderen zu setzen. Das braucht meine ganze Konzentration. Und ist unangenehm. Und entspricht so ganz und gar nicht dem, wofür Sprache meines Erachtens gut sein sollte: Dass Menschen miteinander reden.
Deshalb zwinge ich mich jetzt regelmässig, mein Gegenüber entweder überzeugt mit „Du“ anzusprechen oder mit „Sie“. Wenn ich sehr unsicher bin, dann sorge ich gleich zu Anfang für Klärung und frage: „Ist es in Ordnung, wenn wir Du zueinander sagen?“
Danach ist ein entspanntes Gespräch möglich – und eine angemessene Verabschiedung. Denn diese birgt bei fehlender Du-Sie-Klärung ja nochmals ganz neue Risiken und lässt nur wenig Hintertürchen offen. Zum Beispiel:
Auf bald!
Blöd nur, wenn das überhaupt nicht den Umständen entspricht. Vielleicht auch
Schön, dass man sich getroffen hat.
– Hilfe!
Ich setzte dem mehrmonatigen Schlamassel im Exlibris übrigens ein Ende, indem ich eines Tages sagte: „Können wir nicht Du sagen zueinander?“ – Das war dasselbe Gespräch, in dem sie mir mitteilte, auf Ende Monat gekündigt zu haben. Aber immerhin.
rachel meint
Ich habe gerade mit meiner Nachbarin über eine neue Sprache geredet: Globish. Englisch wurde auf 1500 Wörtern reduziert, ohne Gramatik und sonstiges. vielleicht könnte man das auf Deutsch auch machen. Dann sind sicher solche Du/Sie Probleme aus dem Raum geschaffen.
Cla Gleiser meint
@Rachel
Sehr anregende. Bei einem Vokabular von 1500 Wörtern würde ich vorschlagen, dass wir grundsätzlich aufs Grüssen und direkte Ansprechen verzichten…
HF meint
Das „Hallo“ ist auch in D eine Plage geworden. Ich antworte demonstrativ mit „Guten Tag“.
Cla Gleiser meint
@HF
Dank für Ihren/Deinen Kommentar. (Bei diesem Thema erlaube ich mir keinen Du-Fehltritt 😉
Heisst das, dass Sie/Du das „Hallo“ als Du-Anrede interpretieren/interpretierst? Wird das in Deutschland grundsätzlich so wahrgenommen?
Jürgen meint
Also mir kommt vor, als ob in Österreich noch immer das althergebrachte „Grüß Gott“ an der Tagesordnung ist. Zumindest fällt es mir nicht auf, dass sich das „Hallo“ schon so verbreitet hätte.
Dafür bemerke ich, dass zum Abschied immer häufiger vom „Ciao“ Gebrauch gemacht wird.
Cla Gleiser meint
Danke, Jürgen.
„Grüss Gott“ ist dann aber schon ein klares Bekenntnis zum „Sie“. Da bleiben diesbezüglich keine Fragen offen.
Und zum (auch in der Schweiz verbreiteten) „Ciao“ denk ich mir halt, dass etwas südeuropäisches Flair ja nicht schaden kann.
HF meint
@Cla Gleiser
(Wir können gerne das Du verwenden).
Das „Hallo“ ist hier bei uns nicht eindeutig ein „Du“, tendiert wohl aber in diese Richtung.
Was mich stört, ist der Ersatz einer Grußformel, die den Begrüßten erst einmal grundsätzlich etwas Gutes wünscht (Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend), durch ein völlig unpersönliches „Hallo“. „Hallo“ sage ich z.B. am Telefon, wenn sich nach dem Abheben niemand meldet. Bei einem persönlichen Aufeinandertreffen nicht.
Cla Gleiser meint
Danke für die Ergänzung und fürs Du, HF.
Genau mit „nicht eindeutig“ beginnen meiner Meinung nach die Probleme. Aber auch der Verlust des guten Wunsches ist eine Verarmung, da stimme ich dir voll zu. In dieser Hinsicht beeindruckt mich immer wieder das Hebräische mit „Shalom“.
Bernd meint
Ich finde das Hallo nicht so unpersönlich und bin im Gegensatz zu Cla schon damit aufgewachsen – die „Hallo Herr Kaiser“ Generation eben.
Eine Herausforderung der Du-oder-Sie-Frage ist, dass sich auch die Regeln ändern, wann welche Anrede benutzt wird. Zum Beispiel war es in der Generation meiner Grossmutter noch ganz klar, dass nur die ältere Person (im geschäftlichen Umfeld, der Vorgesetzte) das Du anbieten konnte.
Mich nervt die Unterscheidung zwischen Du und Sie. Die von Cla dargestellte Änderung der diesbezüglichen Gepflogenheiten sind doch ein Hinweis darauf, dass Sprache nicht statisch ist und sich entwickelt. In diesem Fall in eine positive Richtung. Die emotionale Reaktion auf Veränderung (wie zB „Hallo ist unpersönlich“) verfliegt mit der Zeit, wie bei den meisten Veränderungen im Leben.
Cla Gleiser meint
Danke, Bernd.
Herr Kaiser: War das nicht dieser synthetische Versicherungsvertreter aus der Fernsehwerbung?
Ich verstehe nicht ganz, was du mit der Unterscheidung zwischen Du und Sie meinst. Nervt dich, dass es im Deutschen überhaupt zwei verschieden Möglichkeiten der Anrede gibt?