Es musst ja wieder einmal soweit kommen. Den grössten Teil meiner Lesearbeit leiste ich unterwegs, und das bedeutet, dass ein grosser Teil dieses grössten Teiles beim Zugfahren geschieht. Also war es nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder einmal ein Buch im Zug zu Ende las. Es war About a Boy von Nick Hornby. Letzte Woche.
Nun habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zum Lesen im Zug. Einerseits gibt es kaum etwas Entspannenderes. Bei einer längeren Zugfahrt ein gutes Buch zu lesen, ist für mich wie Ferien. Andererseits sind die wenigsten meiner Zugfahrten länger. Als ich About a Boy zu Ende las, war ich unterwegs von Zürich nach Thalwil. Das sind 9 Minuten. Von Abschalten kann unter diesen Bedingungen keine Rede sein, denn im Hinterkopf sitzt konstant der Gedanke ans Aussteigen. Das nervt; vor allem in der letzten Phase der Lektüre, wenn ich mich – wie den Lesern dieser Rubrik inzwischen klar sein dürfte – von nichts und niemandem stören lassen will. Der Autor hat an den letzten Abschnitten und Sätzen seiner Geschichte sicherlich besonders sorgfältig gearbeitet, und so habe ich das Gefühl, ihm gerade hier meine besonders ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lassen zu müssen.
Ich war an diesem Abend also etwas in der Klemme, neugierig auf den Schluss des Buches, das schon so lange auf meiner Lektüreliste gestanden hatte (die Verfilmung schaue ich mir seit Jahren in regelmässigen Abständen immer wieder an), und gleichzeitig unsicher, ob denn die 9-Minuten-Fahrt ausreichen würde, um den Abschluss würdig zu begehen. Aber: Ist es nicht gerade diese Zittrigkeit, die das Leseerlebnis noch einen Hauch intensiver macht? Wie Autofahren ohne Sicherheitsgurte. (Achtung: Nur ein Beispiel. Ich mache das nie und es soll bitte auch niemand auf die Idee kommen. Jedenfalls nicht aufgrund dieses Artikels.) In meiner Klemme siegte natürlich die Leselust. Und es ging auf. Nicht einmal knapp war es, so dass ich das Buch ruhig zur Seite legen konnte, mich entspannt in die Sofa-Ecke (Intercity-Doppelstöcker oben gleich nach der Treppe) fläzen und sogar noch ein Foto von Buch und SBB-Bistrotisch schiessen. Schön war das. Mein Mut hatte sich gelohnt, und der Nervenkitzel (reicht es, reicht es nicht?) verfehlte auch nicht seine Wirkung. Wenn das Leben nur immer so wäre!
Weitere Vorteile des Zuges als Ort, an dem ich ein Buch zu Ende lese:
- Der Ort, an dem ich den definitiv letzten Satz zu mir nehme, ist weitgehend vom Zufall bestimmt. Deshalb ist er auch nicht reproduzierbar. Ich kann das Buch zwar nochmals lesen, werde es aber nie mehr am exakt gleichen Ort zu Ende lesen können. Das ist wie im Leben. Und Literatur ist Leben.
- Ich sitze inmitten einer zusammengewürfelten Weggemeinschaft. Da geht es mir genau gleich wie den Figuren in den Geschichten, die ich lese. Und auch das ist wie im richtigen Leben.
- Zugfahren entspannt. Das regelmässige Rauschen (früher kam dazu noch das Pochen auf den Gleisnähten, wie ein Herzschlag) kann den Leser in eine Art Trance versetzen. Da gibt es dann nicht mehr viel anderes als mich und mein Buch.
- Wenn ich dann tatsächlich fertig bin und das Buch zur Seite lege, kann ich die letzten Sätze ausgiebig in mir nachklingen lassen. Nichts kann sich in diese Stille drängen, denn ich bin ja noch nicht dort, wo ich hin will. Ich bin eigentlich nirgends, irgendwo dazwischen. Was soll ich dort anderes tun als dasitzen und aus dem Fenster sehen? Und der Welt zuschauen, die an mir vorbeizieht wie eine Geschichte.
Nachteile des Zuges als Ort, an dem ich ein Buch zu Ende lese:
- Der Kaffee.
- Wenn es dann doch einmal nicht aufgeht, ist es höchst ärgerlich, entweder das Buch 6 Zeilen vor Schluss nochmals wegpacken oder eine Station weiterfahren und dann wieder umkehren zu müssen.
- Ein unsensibler Schaffner könnte mich in der sensiblen Phase schroff ansprechen und den Lesefluss stören. Dabei sollten Leser im Zug mindestens ebenso zärtlich auf die Billetkontrolle hingewiesen werden wie schlafende Passagiere. („Dürfte ich vielleicht ihr Billet sehen, wenn Sie mit diesem Kapitel fertig sind?“)
Matt Suremann meint
Lieber Cla!
Deine Blogs tun einfach gut! Eigentlich wollte ich nur kurz reinstöbern. Nun habe ich alle drei Beiträge zum Thema „Orte an denen man Bücher zu Ende liest“ gelesen und sogar ein bisschen mehr. Und siehe da. Die Beiträge verfehlten ihre Wirkung nicht! Gestern noch fragte mich meine Frau liebevoll, was ich mir denn zu Weihnachten wünschen würde. Ich konnte ihr die Frage nicht beantworten. Weil mir just in dem Moment kein treffender Wunsch in den Sinn kam. Durch Deine Blogs erinnerte ich mich an einen lange gehegten Wunsch! Die Chroniken von Narnja von C.S. Lewis! Herzlichen Dank! Nun ist die Vorfreude auf Weihnachten bei mir gleich auf ein Vielfaches gestiegen! Herzlichst: Matt
Cla Gleiser meint
Danke, Matt.
Dann wünsche ich Dir schon jetzt schöne Erlebnisse bei der Lektüre der Narnia-Chroniken. Und vielleicht lässt Du mich ja wissen, wo Du die Bücher zu Ende liest.
Herzliche Grüsse, Cla.
Matt Suremann meint
Lieber Cla
Soeben habe ich die 168. Seite des Wunders von Narnia zu Ende gelesen. Und zwar in meinem Lieblingssessel von unserer Couch im Wohnzimmer. Ich habe mich während dem Lesen ein wenig beobachtet und festgestellt, dass ich meine Bücher sowohl im Bett, wie auch auf der Couch zu lesen pflege! Und zwar am liebsten dann, wenn es ruhig ist im Haus und ich nicht durch irgendwelche Nebengeräusche abgelenkt werde. Das stille Örtchen ist auch noch so einer dieser Plätze. Allerdings für meinen Rücken und für meine Hüfte nicht sooo sehr geeignet…! 🙂
Nun freue ich mich auf Band 2 „Der König von Narnia“. Auf wiederlesen und herzliche Grüsse Matt
Cla Gleiser meint
Vielen Dank, Matt.
Weiterhin frohe Lektüre!
Cla