Zum ersten Mal habe ich mich auf ein umfangreiches Hörbuch eingelassen: Darkside Park von Ivar Leon Menger und fünf weiteren Autoren, die er für dieses Projekt engagiert hatte.
Über Wochen hatten mich die Geschichten um die eigenartige Stadt Porterville auf meinem iPod begleitet, und letzten Dienstag dann war das Ende ganz nahe gerückt. Leider aber bot der Dienstag keine Gelegenheit, sich gemütlich zurückzulehnen um die letzte Stunde mit voller Aufmerksamkeit geniessen zu können; meine Agenda war voll, ich hatte Termin nach Termin und konnte meine Abstecher nach Porterville deshalb nur sehr zerhackt dazwischenschieben.
Und dann, ganz am Schluss, blieben noch 4 Minuten. Ich war gerade mit dem Auto auf den Parkplatz gefahren, deponierte meine Tasche im Büro und machte mich dann zu Fuss auf den Weg, um bei Freunden zu essen. Auf diesem Weg würde ich die 4 Minuten gerade unterbringen können. Doch wollte ich das? So nebenbei?
Es erschien mir unwürdig, nachdem ich nun über Wochen immer wieder in dieser Geschichte versunken war und doch mit einiger Spannung auf den Schluss wartete. Aber das hätte ich mir natürlich früher überlegen müssen. Denn dieser Schluss hatte längst begonnen und nachdem ich die letzte Stunde schon zwischen Terminen zerpflückt angehört hatte, schien es scheinheilig, um die letzten 4 Minuten nun ein solches Theater zu machen.
So steckte ich den iPod in die Tasche und die Stöpsel in die Ohren und machte mich auf den Weg zu meinen Freunden und ein letztes Mal nach Porterville.
Zum Glück. Denn ein Buch unterwegs (und ich meine richtig unterwegs, nicht im Zug, sondern auf dem Trottoir*) fertigzuhören oder fertigzulesen, ist eine besondere und durchaus angemessene Erfahrung.
Wenn ich ehrlich bin, muss ich nämlich eingestehen: Mein Leben ist nicht so schön planbar, dass ich mich zu jedem besonderen Anlass auf meinen Lieblingssessel zurückziehen kann, um den Moment ungestört zu geniessen. Und selbst wenn ich so geplant und mir alles zurechtgelegt habe, läuft es längst nicht immer nach Plan. Vieles geschieht darum mitten im Alltag, quasi nebenbei, auch viel Schönes. Ist es deshalb weniger schön?
Natürlich nicht.
Und da Lesen und Leben weit mehr als nur 80% ihrer Buchstaben gemeinsam haben, ist es sehr passend, auch den feierlichen Abschluss eines Buches so nebenbei zu erleben. Jedenfalls bedauerte ich den Entscheid, die letzten 4 Minuten dazwischenzuquetschen, kein bisschen. So ist das Leben nun einmal. Und einmal mehr hatte die Literatur mir geholfen, etwas über das Leben zu lernen.
Weitere Vorteile des Trottoirs als Ort, an dem ich ein Buch zu Ende lese:
- Frische Luft.
- Nach dem letzten Wort, kann ich vom Buch aufblicken und sehe Häuser, Menschen, Bäume, Autos, Abfall. So erinnert mich auch die räumliche Umgebung daran, dass ich mitten im Leben stehe und auch die Literatur sich genau dort abspielt.
- Das Unterwegssein zwingt mich, vorwärtszulesen. Da gibt es kein Innehalten oder Zurückblättern oder „Wie war das noch gleich am Anfang?“ Jetzt lese ich dieses Buch zu Ende.
- Ich spüre meinen Körper mehr, als wenn ich faul irgendwo rumsitze. Und Lesen ist auch eine körperliche Erfahrung.
- Ich bin eigentlich allein – und daher frei, meinen Gefühlsregungen Ausdruck zu geben. Wer soll sich schon daran stören, dass ich den Rest meines Weges zum Bahnhof weinend zurücklege?
Nachteile des Trottoirs als Ort, an dem ich ein Buch zu Ende lese:
- Mangelhafte Aufmerksamkeit beim Überqueren einer Strasse kann schwerwiegende Folgen haben.
- Je nach Veranlagung kann das Fertiglesen auf dem Trottoir Überforderung, Stress und heftige innere Unruhe auslösen. Dieser Punkt könnte aber auch bei den Vorteilen stehen.
- Man könnte irgendwo hintreten, wo man nicht hintreten will.
- Es ist schwierig, Kaffee zu trinken.
- Trottoir ist unser schönes (weil aus dem Französischen geborgtes) schweizerdeutsches Wort für den Gehsteig.
[…] Mein Bedürfnis, den Schluss zusammenzuhalten, zwingt mich immer wieder dazu, unterwegs zu lesen. Nicht beim Autofahren. Aber beim Gehen. Darüber habe ich in dieser Reihe ja auch schon berichtet. […]