Manche Artikel schreiben sich beinahe von selbst.
Mein Freund Heinz hat mich auf einen Satz aufmerksam gemacht, über den er in der Gratiszeitung 20 Minuten gestolpert war. Berechtigterweise:
Die Demonstranten riefen „Nein zum Polizeistaat“ und „Bouteflika raus“, in Anspielung auf den algerischen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika, der das Land seit 1999 regiert.
Heinz fand diese „‚Anspielung‘ wirklich ganz ausserordentlich fein und subtil gelungen.“
Tatsächlich ist die Verwendung von Anspielung hier komplett unpassend. Sobald etwas explizit gemacht, also beim Namen genannt wird, kann es sich gar nicht mehr um eine Anspielung handeln. Dann wird nämlich nicht mehr gespielt, sondern gehauen.
Eine Anspielung ist stattdessen ein mehr oder weniger verschleierter und verspielter Hinweis auf eine Person oder eine Sache. Ein Beispiel folgt weiter unten.
Nun gibt es in dieser Geschichte um die missbrauchte Anspielung eine interessante Wendung: Als ich mich auf das Schreiben dieses Artikels vorbereitete, wollte ich die Quelle überprüfen und folgte dem Link, den Heinz mir geschickt hatte, auf die Seite von 20 Minuten. Doch siehe da: Der Artikel lag zwar noch vor, doch vom zitierten Satz keine Spur mehr. Offenbar hatte ein stilsicherer Redaktor den Fehltritt entdeckt und beseitigt.
Und ich? Ich stand ohne Quellen da. (Doch da bin ich ja in bester, weil adeliger, Gesellschaft.*)
So tat ich, was alle in solchen Situationen tun, und gab „‚in Anspielung auf den algerischen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika'“ bei Google ein. Die Anführungszeichen stellten sicher, dass es tatsächlich nur jene Seiten in meine Suchergebnisse schafften, die den exakten Wortlaut enthielten.
Und siehe da: 60 Treffer.
Der unrühmliche Satz taucht quer durch die deutschsprachige Presselandschaft auf. Eine Auswahl:
- Neue Zürcher Zeitung (NZZ)
- Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
- St. Galler Tagblatt
- Der Spiegel
- Manager-Magazin
- Neue Nidwaldner Zeitung
- Neue Obwaldner Zeitung (Die Unterwaldner sind wenigstens konsequent.)
- Junge Welt
- Nürnberger Nachrichten
FAZ und NZZ? Ausgerechnet jene zwei Blätter, die als Flaggschiffe gepflegter Sprache im deutschen Blättermeer gelten? Bin ich zu naiv, dass mich so etwas erschüttert?
Hier wurde offenbar ohne jeden stilkritischen Blick eine Agenturmeldung übernommen. Und da mich unter anderem auch die Überzeugung zum Bloggen treibt, dass sprachliche Form und Inhalt nicht zu trennen sind, kann ich natürlich auch der Folgefrage nicht ausweichen: Wenn die Sprache nicht kritisch beurteilt wird, wie sieht es dann mit dem Inhalt aus?
*DAS ist eine Anspielung.
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