In der Regel kauft und liest man Bücher wegen der Wörter, die in ihnen stehen, die auf ihren Seiten abgedruckt sind. Was auf diesen Seiten weiss geblieben ist, wird hingegen kaum beachtet. Ich erwarte auch nichts von diesen freien, weissen Orten. Sie leisten keinen Beitrag an die Geschichte.
Umso stärker ist mir der Schluss von Paul Austers aktuellem Roman Sunset Park unter die Haut gefahren. Die Kraft ergab sich aus dem Zusammenspiel der letzten Wörter mit dem freigebliebenen Papier auf der letzten Seite.
Spoilerwarnung: Da ich über den Schluss dieses Romanes schreibe, werde ich nicht darum herumkommen, zu verraten, wie die Geschichte ausgeht. Wer trotzdem weiterliest, nehme dies in Kauf und verzichte auch darauf, das nebenstehende Foto genauer zu betrachten.
Zunächst: Das Buch hat mich nicht umgehauen. Irgendwie hat es mich nicht in dem Masse eingenommen, wie ich es sonst von Auster gewöhnt bin. Aber der Schluss – der Schluss hat mich dann für alles entschädigt. Und dass dieser Schluss eine solche Wirkung entfalten konnte, nachdem die vorangehenden 300 Seiten mich einigermassen kalt gelassen hatten, unterstreicht seine Kraft noch mehr.
Ein Mann auf der Flucht
Der Roman folgt der Geschichte des jungen Miles Heller, der nach einem dramatischen Unfall, bei dem er den Tod seines Stiefbruders verschuldet, aus seiner Lebensumgebung ausbricht und alles hinter sich lässt, um an einem neuen Ort ganz neu anzufangen. Tatsächlich findet er in der Beziehung zu einer Frau eine neue Perspektive. Gezwungen, sich für einige Monate von seiner grossen Liebe zu trennen, lebt er in der Hoffnung, nach der Trennung mit ihr ein gemeinsames Leben aufzubauen. Diese Hoffnung bewegt ihn auch dazu, sich den alten Wunden zu stellen und neu den Kontakt mit seinen Eltern aufzunehmen, die er vor Jahren ohne Angabe eines Grundes verlassen hat.
Soweit so gut. Doch dann, 10 Seiten vor dem Schluss, passiert wieder einmal einer dieser unerwarteten, blöden, alles vernichtenden Zwischenfälle, für die ich Austers Arbeit so liebe, weil sie ist wie das Leben. Und dann geht ganz schnell ganz viel kaputt.
Am Ende die Leere
Der Roman lässt uns zurück mit einem Bild von Miles Heller, der in einem Taxi unterwegs ist zu seinem Vater, der ihm in der neuen bedrohlichen Situation seine Hilfe angeboten hat. Doch dieses Angebot steht nicht im Vordergrund. Dort steht stattdessen der komplette Verlust aller Hoffnung. Der letzte Satz von Sunset Park zieht sich über beinahe eineinhalb Seiten, ein Gedankenschwall, der nicht abreissen will und dem ich mich nicht entziehen kann. Und am Schluss steht das (Übersetzung durch mich. Aus mir unbekannten Gründen ist das Buch noch nicht auf Deutsch erschienen):
… and he wonders if it is worth hoping for a future when there is no future, and from now on, he tells himself, he will stop hoping for anything and live only for now, this moment, this passing moment, the now that is here and then not here, the now that is gone forever.
… und er fragt sich, ob es sich lohnt, auf eine Zukunft zu hoffen, wenn es doch keine Zukunft gibt, und von jetzt an, so sagt er sich selbst, wird er nichts mehr hoffen und nur noch für den Moment leben, diesen Augenblick, diesen vergänglichen Augenblick, das Jetzt, das hier ist und dann fort, das Jetzt, das für immer vergangen ist.
Und dann sind drei Viertel der Seite leer (siehe Abbildung).
Wow.
Diese Leere verbündet sich mit den letzten Wörtern, dem letzten Gedanken der Geschichte
the now that is gone forever
das Jetzt, das für immer vergangen ist
zu einem Schlag in die Magengrube. So jedenfalls fühlte ich mich. Vielleicht ein bisschen wie Miles Heller, der Protagonist: schwer getroffen, alleingelassen, orientierungslos, plötzlich vor dem Nichts stehend.
Schmerzhaft.
Auch so kann Literatur sein. Auch das vermag Sprache.
Wer keine Bücher liest, verpasst so einiges.
Heinz meint
Herzliche Gratulation, Cla, zum dritten Geburtstag deines Blogs!
Den Windeln und dem Krabbeln entwachsen (oder hat dein Blog diese Phase übersprungen? könnte sein), geht er aufrecht und gedeiht prächtig!
Cla Gleiser meint
Vielen Dank, Heinz!
Joanna meint
….beste Rezension zu diesem Buch, dich ich bis jetzt gelesen habe…. toll!
Cla Gleiser meint
Joanna, Du bringst mich in Verlegenheit. Eine Rezension wollte ich ja eigentlich gar nicht schreiben. Oder ist dein Kommentar ironsich gemeint? In diesem Fall wäre ich nun tatsächlich einmal um ein Sarcmark froh gewesen…