Anscheinend bereitet es einigen Menschen Mühe, scheinbar und anscheinend auseinanderzuhalten.
Oder bereitet es ihnen nur scheinbar Mühe?
Ich bin der Erste, der zugibt: Die beiden Wörter kommen wirklich sehr ähnlich daher. Aber eben: Auf Ähnlichkeit ist nicht immer Verlass. Das wissen wir spätestens seit Dr. Jekyll und Mr. Hyde. (Ich meine die Filmversion von 1941, in der Spencer Tracy beide Rollen mit minimalem Make-up-Einsatz spielte. Ganz anders Fredric March, der in der Version von 1931 unter der Hyde-Maske nicht mehr zu erkennen war. Dennoch sind beide Filme sehr empfehlenswert – und zudem auf einer DVD als Double Feature erhältlich. Die beste Adaption des Stoffes von Robert Louis Stevenson ist meiner Ansicht nach aber immer noch „Das Testament des Dr. Cordelier“ von Jean Renoir mit dem unvergleichlichen Jean-Louis Barrault. – So viel dazu.)
Wahrer und trügerischer Schein
Natürlich haben beide Wörter mit scheinen zu tun. Bei beiden geht es darum, was von aussen sichtbar ist, was also nach aussen scheint. Bei scheinbar jedoch trügt dieser Schein, während er bei anscheinend mit grosser Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entspricht.
Wenn also ein Redner anscheinend nervös vor seinem Publikum steht, dann deswegen, weil er tatsächlich nervös ist. Anscheinend spricht von dem, was von innen nach aussen durchdringt. Es lässt sich mit offenbar ersetzen. Der anscheinend nervöse Redner kann auch offenbar nervös sein.
Wenn ein Redner – andererseits – scheinbar nervös vor seinem Publikum steht, dann … Nein, dieses Beispiel ergibt keinen Sinn. Es würde bedeuten, dass ein Redner nervös wirkt, obwohl er innerlich ganz ruhig ist. Umgekehrt funktioniert es besser: Ein Redner, der scheinbar ruhig vor seinem Publikum steht, ist es eigentlich gar nicht. Doch er weiss seine Unruhe gekonnt zu verbergen oder zu überspielen. Er wirkt also ruhig, ist aber unruhig. Scheinbar lässt sich in der Regel mit vermeintlich ersetzen – oder natürlich mit der Umschreibung „nur dem Anschein nach“.
Die Lösung für Eilige
Scheinbar drückt also aus, dass etwas nur dem äusseren Anschein nach so ist, wie es erscheint. Innen ist es ganz anders.
Anscheinend steht bei der Vermutung, dass eine Sache sich tatsächlich so verhält, wie sie äusserlich erscheint.
Scheinbar und anscheinend bedeuten also nur scheinbar dasselbe, was anscheinend jedoch noch nicht überall bekannt ist.
Falsch sind daher Sätze wie:
24 Grad im Oktober! Der Sommer hat sich scheinbar noch einmal zurückgemeldet.
Völlig unerwartet lehnte sie die Auszeichnung ab. Ruhm und Ehre bedeuten ihr scheinbar nichts.
Die Möbel sind anscheinend antik, wurden aber in Wahrheit neu angefertigt.
Ein Dialog über das Vergessen
Du hast mich anscheinend vergessen. Ich habe seit 18 Jahren nichts von dir gehört.
Nein, nein! Ich habe dich nur scheinbar vergessen. In Wahrheit habe ich in den 18 Jahren täglich an dich gedacht. Die Post muss meine Briefe verloren haben.
Das ist die blödeste Ausrede, die ich je gehört habe.
Sicher nur die scheinbar blödeste … ?
Du bist anscheinend noch blöder als deine Antworten.
Ruedi Eggenberger meint
Aha! Die Sonne ist anscheinend. Der Mond scheinbar. Ich habs kapiert aber nicht begriffen, dafür sind meine Arme zu kurz.
Cla Gleiser meint
Ruedi, Du unverbesserlicher Poet!
Torsten Holz meint
„Ich bin der erste, der zugibt:“
Riesig, Du hast von Substantivierung keine Ahnung, willst mir aber erklären, wie meine Muttersprache funktioniert, unglaublich.
Cla Gleiser meint
Hi Torsten
Danke für den Hinweis auf den Vertipper. Hab’s soeben korrigiert.
Deinem Tonfall nach zu urteilen, hast Du Anfang Jahr mit dem Rauchen aufgehört. Weiterhin viel Erfolg! Du schaffst das!