Ergänzende Texte zum Artikel «Pflege ist … übersetzen! – Einsatz von Grafiken und Filmen zur Förderung von open Education» von Prof. Dr. André Fringer. Erschienen in PADUA – Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung. Jahrgang 18, Heft 1, 2023. Hogrefe, Bern.
Zitat 01
«Auch wenn bei mir am Zeichentisch weit weniger auf dem Spiel steht als am Spitalbett oder in einer anderen Pflegesituation, gibt es doch Parallelen: Auch meine Arbeit sehe ich mit ihrem kommunikativen Grundauftrag als Reagieren (oder, um in der Sprachwelt der Kommunikation zu bleiben, passender vielleicht als «Antwortgeben») auf eine Vorgabe. Diese besteht bei mir nicht in einer Situation, sondern in einer Mitteilung, deren beste Form es zu finden gilt. Und auch hier geht es nicht ohne kritisches Denken, sofern das Ziel ist (und m. E. muss es das sein), die Mitteilung zu erfassen, bevor sie eine Form erhält. Einfach gesagt: Ich will nichts zeichnen, ohne es verstanden zu haben.
Hier zeigt sich ein Grundmuster des Dialogs, das jeder gesunden Kommunikation, ja jedem gesunden menschlichen Miteinander innewohnt[1]: Agieren und reagieren folgen in einem Puls aufeinander und auf diesem Puls bewegen sich die beteiligten Personen auf ein Ziel hin, das ihnen noch nicht bekannt ist. Den Weg dorthin zu gestalten, das heisst für mich Kreativität.»
[1] Deutlich erkennbar zum Beispiel an einem für mich entscheidenden Kommunikationskompass, der klassischen Rhetorik, deren Theoriebildung untrennbar verknüpft ist mit der Demokratisierung, von Anfang an also angelegt war auf den Austausch und das gemeinsame Finden von Lösungen und Wegen in die Zukunft.
Zitat 02
«Dass Papier und Bleistift das Potenzial haben, bei Menschen zu Aha-Momenten zu führen, hatte ich oft erlebt. Speziell beim zeitgleichen Illustrieren präsentierter Inhalte an Konferenzen, in Seminaren und Workshops (sogenanntes «Visual Recording» oder auch «Visual Facilitating») hatte ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Visualisierungen nicht nur Inhalte näherbrachten und zugänglicher machten, sondern auch, dass sie zum Weiterdenken anregten (und manchmal auch provozierten). Regelmässig entstanden vor den Plakaten angeregte Gespräche unter Teilnehmenden, von denen manche kurzerhand selbst zum Stift griffen und ihre Antwort in die Visualisierung hineinzeichneten. Von diesen Erfahrungen war es kein grosser Schritt, dieses Potenzial von Papier und Bleistift auch filmisch zu erschliessen und es so in anderen Kontexten zu entfalten und für andere kommunikative Herausforderungen nutzbar zu machen.»
Zitat 03
«Am Anfang der Aufgabe, einen Sachverhalt bildlich darzustellen, steht in der Regel ein Eintauchen in eine mir noch weitgehend unbekannte Welt. Dabei habe ich meistens mit Menschen zu tun, die nicht nur Expert_innen sind, sondern für ihren Fachbereich und ihre Themen auch brennen. Ich trete dann als Laie in ihre Welt ein, mit der Aufgabe, das Wesentliche zu sehen, mindestens im Ansatz zu verstehen und als Bild auf den Punkt zu bringen; und zwar am liebsten so, dass die Expert_innen sich wiedererkennen und anderen Laien ein Licht aufgeht.
Der Weg dahin ist gepflastert mit Fragen. Viele davon gehören zur Gruppe der sogenannten «blöden Fragen». Und ich darf sie alle stellen – ohne Risiko, meinen Status zu gefährden, schliesslich bin ich nicht Experte, sondern lernender Laie. Diese Fragen öffnen Türen – und führen nicht selten auch zu erhobenen Augenbrauen expert_innenseits, wenn sie einen eigenen blinden Fleck spürbar machen. Auf diesem Weg geschieht die Annäherung an die treffende und funktionierende Visualisierung im Dialog. Ich lerne Fakten und Zusammenhänge, die Expert_innen bekommen über den Blick in den Spiegel Unterstützung bei der Reduktion Ihres Themas – visuell wie auch didaktisch.»
Zitat 04
«Der Film zur Typologie pflegender Angehöriger ist ein Paradebeispiel für die Herausforderung, komplexe Informationen strukturiert und nachvollziehbar zu verbildlichen, und zwar so, dass ihre inneren Zusammenhänge so einfach wie möglich dargestellt werden, aber eben sichtbar bleiben. Nach Abschluss des Forschungsprojektes bestand der Wunsch, die komplexen Ergebnisse zu den identifizierten Falltypen so einfach wie möglich darzustellen und im Sinne von open Science der breiten Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. In enger Absprache mit dem Team der FHSG (heute OST, Ostschweizer Fachhochschule) bestehend aus Mitarbeitenden der sozialen Arbeit, des Instituts für Modellbildung und Simulation sowie des Instituts für Pflegewissenschaft entstand parallel zur Skizze ein detailliertes Drehbuch. Es wurde ausserdem entschieden, dass die visuelle Umsetzung schlicht und sachlich gehalten werden sollte, um dem Wesen der Vorlage wie auch der Sensibilität des Themas gerecht zu werden. Praktisch bedeutete dies aus gestalterischer Sicht unter anderem, dass ich die verwendeten Figuren sehr neutral gestaltete und nicht nur Handlungen, sondern auch Emotionen (wie z. B. Erschöpfung) einzig über Körpersprache ausdrückte. Die hohe Informationsdichte und die detaillierten Vorgaben verlangten bei den Dreharbeiten volle Konzentration, da das analoge Arbeiten mit Stift und Papier keine Fehlertoleranz bietet. Pfeile, Beschriftungen, Figuren – jedes Detail hatte seine Position im Ablauf. Das Ergebnis ist ein sehr dichter Film, der den Inhalt speziell dadurch erschliesst, dass er die Zuschauer:innen auf den Weg der Entstehung des Modells mitnimmt – und dies gleich in mehreren Runden.»
Zitat 05
«Ich arbeite aus Überzeugung mit Papier und halte die digitalen Anteile meines Prozesses so klein wie möglich. Die Fehlertoleranz ist zwar wesentlich geringer als beim digitalen Illustrieren, aber gerade dieser Zwang, mit dem weiterzuarbeiten, was auf dem Papier vor mir liegt, eröffnet immer wieder Ideen und Möglichkeiten, die sonst womöglich verborgen geblieben wären. Und bei ganz dramatischen Fehltritten bleibt immer noch – nochmals von vorn zu beginnen.
Vor allem aber erlebe ich das Arbeiten mit Tusche und Papier als ehrlich. Ich bin auf meine eigenen handwerklichen Fähigkeiten zurückgeworfen, kann keine Linien geradebiegen. Was auf dem Papier ist, ist auf dem Papier. Ganz besonders gilt dies natürlich für Filme, bei denen ich ein Konzept unter der Kamera auf einem leeren Blatt Papier nochmals zeichne; nicht als blosse Repetition, das wäre zermürbend langweilig, sondern als letzte Stufe eines Entstehungsprozesses, eines Weges, den ich im engen Austausch mit meiner Auftraggeber_in gegangen bin.
Ich bin überzeugt davon, dass dieses Arbeiten mit analogen Medien, mit echtem Papier und physischen Pigmenten, auch beim Betrachter anders, stärker, zuverlässiger und ehrlicher ankommt. Die Betrachterin und der Betrachter sind ja ganz nahe dran, sie schauen mir über die Schulter und sehen jedes Zittern meiner Hand, jede Unregelmässigkeit in einer Linie, sind unmittelbar dabei bei jedem Strich und jedem Punkt.»
Zitat 06
««Was Pflege ist …» war eine abenteuerliche Reise. Die konstante Beschäftigung mit der facettenreichen Welt der Pflege liess in mir Nähe und Identifikation wachsen. Im Laufe des Jahres wurden die Motive immer mutiger. Hatte ich noch relativ zögerlich und brav ausführend begonnen, fielen mir über die Monate immer ausgefallenere Gedanken und Ideen zu, die manchmal auch an Grenzen stiessen – die meines Auftraggebers und seiner Sicht der Welt, die ich da abbilden sollte, und auch an die Grenzen des allgemein Verständlichen.
Nach einem Jahr «Pflege ist …» hatte sich zu dem umfassenderen Verständnis dessen, was Pflege ist, auch ein noch grösserer Respekt dafür gesellt, was Pflege tut und zu tun vermag.
Gewissermassen gekrönt wurde die Illustrationsserie mit einer Einladung, im November 2021 an der MSc- und MAS-Diplomfeier des Departements Gesundheit der ZHAW zu sprechen. Ich nahm die Anwesenden mit auf meine Entdeckungsreise in die Welt der Pflege und konnte nicht umhin, auch auf die schmerzhafte Einsicht hinzuweisen, die sich mir in diesem Jahr unausweichlich aufgedrängt hatte: Die Pflege hat ein Imageproblem. Und es beginnt bei den Pflegenden selbst.Ein Jahr nach Abschluss der ersten Serie folgte daher eine weitere unter dem Stichwort «Pflegestolz». Meine Arbeit an diesen Motiven durch die neue Brille des Selbstverständnisses der Pflegenden wäre ohne die Grundlage von «Pflege ist …» undenkbar. Der sachlicheren Auseinandersetzung folgt nun eine emotionalere, die von mir eine noch stärkere Identifikation verlangte.»
Zitat 07
«Der Begriff «Selbstverzwergung» Schlug bei mir mit Wucht ein. Ganz ehrlich: Ich hatte das Wort vorher noch nie angetroffen. Seine Einfachheit und Bildhaftigkeit waren mir hoch willkommene Impulsgeber für eine Filmserie, bei der nicht Information, sondern Emotion das primäre Anliegen war. Zugespitzt sollte es sein und durchaus auch mit (bissigem) Witz.
André Fringer lieferte mir 9 Aussagen, die ich in fast uneingeschränkter kreativer Freiheit als Kurzclips umsetzte. Entstanden sind filmische Schlaglichter, reduziert in der Aussage, radikal einseitig und gerade dadurch hoffentlich bewegend. Der Spannungsbogen über die Serie reicht vom bedrückenden Feststellen des mangelnden Selbstbewusstseins über das Eingeständnis der «Nursing Power» bis zum Aufbruch aus der Selbstverzwergung hinaus.
Nicht nur das Ergebnis, sondern auch meine Arbeit daran war emotional. Aus dem Jahr mit der Illustrationsserie «Pflege ist …» hatte ich den starken Eindruck mitgenommen, dass in der Pflegende arbeitende Fachpersonen nicht nur ein Imageproblem nach aussen (Stichwort «Hilfskraft des Arztes»), sondern auch ein für mich nicht nachvollziehbar schwaches Selbstbild hatten. Ich schöpfte darum aus dem Vollen, um den pflegenden Zuschauer_innen einige Mut machende und Augen öffnende Striche vorzulegen.»