Das Ende eines guten Buches ist immer eine spannende Sache.
Inhaltlich spannend. Sicher. Hoffentlich.
Dann aber auch spannend dank der Frage, die am Anfang dieser Artikelreihe stand: In welchem Moment wird dieses Buch mich wieder in meinen Alltag entlassen?
Wo werde ich sein, wenn ich die letzten Zeilen lese?
Der Schluss als Einheit
Die Situation gegen Ende des Buches verschärft sich durch mein Bedürfnis, den Schluss nicht zu zerfleddern. Ich möchte nicht eine halbe Seite vor dem Abendessen lesen, zweieinhalb danach, eine beim Zähneputzen und den letzten Absatz dann im Bett.
Den Schluss, den Abschied, möchte ich intensiver erleben, als Einheit. Da wünsche ich mir, nochmals einzutauchen und dann das Loslassen umso intensiver zu spüren.
Das Ringen um den nicht zerfledderten Schluss kann unterwegs besonders dramatische Formen annehmen. – Wie lange braucht der Zug noch bis zu meinem Ziel? Reicht das? Oder sollte ich lieber jetzt schon aufhören, um mir noch ein Bündel von drei Seiten aufzusparen?
Mein Bedürfnis, den Schluss zusammenzuhalten, zwingt mich immer wieder dazu, unterwegs zu lesen. Nicht beim Autofahren. Aber beim Gehen. Darüber habe ich in dieser Reihe ja auch schon berichtet.
Perfektes Timing
Vorgestern war ich auch unterwegs. Und dann reichte Paul Austers Winter Journal exakt bis in die Unterführung unter der Zürcherstrasse.
Nun muss man wissen: Diese Unterführung ist kein Ruhemsblatt für das Thalwiler Bauamt. Sie ist versifft. Dunkel, dreckig, dramatisch.
Die Unterführung ist auch nicht besonders lang, vielleicht 20 Meter.
Aber es ging genau auf.
Ich blätterte zur letzten Seite und tauchte ab.
Mit jedem Schritt musste ich mich mehr anstrengen, also meine Augen. So las ich schliesslich:
A door has closed. Another door has opened.
You have entered the winter of your life.
Ein Geschenk!
Merci.
Vorteile der versifften Unterführung als Ort, an dem ich ein Buch zu Ende lese
- Einsamkeit. Manchmal ist es schön, ein Buch umgeben von Menschen zu Ende zu lesen. Meistens aber nicht. Und alleine sein ist eines. In einer versifften Unterführung alleine zu sein nochmals etwas ganz Anderes. Wer’s nicht glaubt, möge es ausprobieren.
- Dunkelheit. Verstärkt den vorangehenden Vorteil. Darüber hinaus aber lässt die Dunkelheit mich spüren, dass Lesen Arbeit ist. Je nach Lichtverhältnissen muss ich mir jedes Wort erkämpfen.
- Fremdheit. Obwohl alltäglich, ist die versiffte Unterführung auch ein fremder Ort. Ihre eigenwillige Akustik, trüben Lichtverhältnisse und eine Mischung abgestandener Gerüche geben ihr Profil.
- Ort des Lebens. Die versiffte Unterführung, gerne von allen gemieden, ist doch ein Ort des Lebens. Sprayereien und Abfall zeugen von Gefühlen, Gedanken und Geschichten. Aus solchen Orten kommen Bücher. Nur logisch, dass sie auch dorthin gehören.
- Ort der Hoffnung. Das viel zitierte „Licht am Ende des Tunnels“ – hier wird es fassbar. Direkt hinter meinem Buch.
- Durchgangsort. Wer will schon in einer Unterführung zelten? Versifft oder nicht versifft. Die Unterführung ist der prototypische Durchgang. Mehr noch als eine Brücke, auf der mancher immerhin kurz verharren und die Aussicht geniessen mag. Die versiffte Unterführung zwingt mich unerbittlich zurück in den Alltag und dazu, den Schluss meines Buches mitzunehmen.
Nachteile der versifften Unterführung als Ort, an dem ich ein Buch zu Ende lese
- Durchgangsort. Niemand hält in einer Unterführung Einkehr. Hinsetzen kann man sich nirgends. Gerade das wäre aber oft willkommen, nach der manchmal erschöpfenden Leseleistung.
- Allfällige Unappetitlichkeiten. Weitere Ausführungen nicht nötig.
- Dunkelheit. Je nach Lichtverhältnissen ist Lesen schlicht nicht mehr möglich. Da hilft dann nur noch die Taschenlampe, was wiederum den Rest der Erfahrung trübt. Aber Achtung: Nicht zu früh aufgeben! Vielleicht brauchen die Augen nur einige Momente, um sich anzugewöhnen.
Tarja meint
…eigentlich suchte ich ein Zitat von Leonard Cohen. Gelandet bin ich hier.
Und hängengeblieben.
Tarja meint
…mehr davon!
Tami87 meint
sehr interessant…warte auf Fortsetzung!
Lg